Verteidigung
möglich gestalten und hatte sich daher, weitab von der anstrengenden richtigen Medizin, darauf verlegt, für Anwälte auszusagen, die seine berüchtigt flexiblen Gutachten benötigten, um ihre Version der Tatsachen zu belegen. Die beiden professionellen Sachverständigen begegneten sich gelegentlich, und sie kannten einander gut. Threadgill hatte die Sache Klopeck aus zwei Gründen nur widerwillig übernommen: Zum einen war die Faktenlage lausig, und die Klage stand auf wackligen Beinen, zum anderen hatte er nicht das geringste Bedürfnis, Nadine Karros im Gerichtssaal gegenüberzutreten. Schließlich hatte er sich nur aus einem Grund dazu bereit erklärt – wegen der fünfzigtausend Dollar zuzüglich Spesen, die er für ein paar Stunden Arbeit erhalten sollte.
Während der Pause begegnete er vor dem Sitzungssaal Dr. Borsow und war entsetzt über dessen Anblick.
»Tun Sie es nicht«, riet Borsow, während er sich zum Aufzug schleppte.
Threadgill lief zur Toilette, spritzte sich Wasser ins Gesicht und beschloss, die Flucht zu ergreifen. Zum Teufel mit der Verhandlung. Zum Teufel mit den Anwälten, das waren sowieso kleine Fische. Er war voll bezahlt worden, und falls sie ihm mit einer Klage drohten, konnte er immer noch einen Teil seines Honorars zurückgeben – oder auch nicht. In einer Stunde konnte er im Flugzeug sitzen. In drei Stunden konnte er sich mit seiner Frau einen Drink im Garten genehmigen. Eine Straftat war das nicht. Schließlich hatte ihn das Gericht nicht geladen. Wenn nötig, kam er nie wieder nach Chicago.
Um sechzehn Uhr tauchte David erneut im Richterzimmer auf. »Es tut mir leid, aber wir scheinen schon wieder einen Mann verloren zu haben. Ich kann Dr. Threadgill nicht finden, und er geht nichts ans Telefon.«
»Wann haben Sie zuletzt mit ihm gesprochen?«
»In der Mittagspause. Da war er einsatzbereit, zumindest hat er das gesagt.«
»Haben Sie noch einen Zeugen, der hier ist und sich nicht abgesetzt hat?«
»Ja. Meine Wirtschaftswissenschaftlerin, Dr. Kanya Meade.«
»Dann rufen Sie die auf, vielleicht finden die verlorenen Seelen ja in der Zwischenzeit nach Hause.«
Percy Klopeck hatte zweiundzwanzig Jahre lang als Disponent in der Zentrale eines Transportunternehmens gearbeitet. Das war eine sitzende Tätigkeit, und Percy hatte acht Stunden am Stück gesessen, ohne sich zwischendurch Bewegung zu verschaffen. Da er nicht gewerkschaftlich organisiert war, hatte er zum Zeitpunkt seines Todes ein Jahresgehalt von vierundvierzigtausend Dollar bezogen, wobei davon auszugehen war, dass er noch weitere siebzehn Jahre hätte arbeiten können.
Dr. Kanya Meade war eine junge Wirtschaftswissenschaftlerin von der University of Chicago, die gelegentiich als Sachverständige tätig wurde, um sich ein paar Dollar dazuzuverdienen – in der Sache Klopeck fünfzehntausend. Die Rechnung war einfach: vierundvierzigtausend Dollar pro Jahr zuzüglich einer jährlichen Steigerung auf Grundlage der Entwicklung in der Vergangenheit und eine Rente in Höhe von siebzig Prozent seines höchsten Gehalts bei einer Lebenserwartung von fünfzehn Jahren über das Alter von fünfundsechzig hinaus. Kurz gesagt, laut Dr. Meade waren Percy und seiner Familie durch Percys Tod 1,51 Millionen Dollar entgangen.
Da er friedlich im Schlaf verstorben sei, bestünden keine Ansprüche auf Schmerzensgeld.
Im Kreuzverhör beanstandete Ms. Karros die errechnete Lebenserwartung. Da Percy mit achtundvierzig verstorben war und ein früher Tod bei seinen männlichen Blutsverwandten nicht ungewöhnlich sei, sei es unrealistisch, davon auszugehen, dass er achtzig Jahre alt geworden wäre. Allerdings hütete sie sich, die Höhe eines etwaigen Schadenersatzes länger zu diskutieren. Das hätte die Zahlen nur plausibel wirken lassen. Die Klopecks hatten keinerlei Ansprüche, und sie wollte nicht den Eindruck erwecken, dass sie die Höhe des beanspruchten Schadenersatzes beunruhigte.
Als Dr. Meade um 17.20 Uhr fertig war, vertagte Richter Seawright die Sitzung auf den nächsten Morgen neun Uhr.
42
Nach dem anstrengenden Tag im Gericht hatte Helen keine Lust zu kochen. Sie holte Emma bei ihrer Schwester in Evanston ab, bedankte sich überschwänglich, versprach, später zu berichten, und raste zum nächsten Fast-Food-Restaurant. Emma, die im fahrenden Auto viel besser schlief als in ihrer Wiege, schlummerte friedlich in der Schlange vor dem Drive-in-Schalter. Helen bestellte mehr Burger und Pommes frites als üblich, weil
Weitere Kostenlose Bücher