Vertrau deinem Herzen
hinter sich brachten.
Für Callie war das alles nichts Neues; sie kannte sich hier aus. Auf dem Weg zur Besucherstation durchquerten sie einen Garten, der alle überraschte, die zum ersten Mal hier waren. Die Beete quollen über vor Wicken und Dahlien, und es gab sogar einen Teich mit Seerosen. In der Gabel eines wild gebogenen Pflaumenbaumes war ein Nest, und Vogelgezwitscher schwebte auf der leichten Brise dahin. Wenn man die Meter um Meter an Zaun und Stacheldraht ignorierte, die den Garten umgaben, war es die perfekte Oase.
Die Insassen, an denen sie vorbeikamen, wendeten den Blick ab. Konfliktvermeidung, hatte es der Gefängnispsychologe genannt. Jeder Augenkontakt war hier eine Herausforderung. Und doch hatten die niedergeschlagenen Augen Callie bei ihrem ersten Besuch hier zu Tode geängstigt. Jetzt war sie nicht nur immun dagegen, sondern sie hatte gelernt, sich ebenfalls konfliktvermeidend zu verhalten.
Sie schaute aus dem Augenwinkel, wie Kate das alles aufnahm. Auf den ersten Blick würde man nicht glauben, dass sie hart genug wäre, um mit so etwas umzugehen. Sie sah aus wie Alice im Wunderland, mit ihren Haaren wie aus der Shampoowerbung und ihren großen Augen. Aber sie war so viel mehr als das. Sie hatte einen Kern aus Stahl. Als eine Insassin sie abschätzend musterte, zuckte sie nicht einmal mit der Wimper.
Sie warteten in einem Raum, der mit Plastikstühlen und laminierten Tischen eingerichtet war. Der Linoleumfußboden war stumpf, und es war so heiß wie in einem Ofen. Durch die Oberlichter kam kein Windhauch. Kate setzte sich und legte Stift und Block vor sich auf den Tisch. Sie richtete sie kerzengerade auf und schickte Callie ein ironisches Lächeln. „Nicht, dass ich nervös wäre oder so.“
Callie lächelte zurück. „Mach dir keine Sorgen. Das geht jedem so.“
Einige Minuten später wurde ihre Mutter von einer Wache hereingebracht. Kate stand schnell auf, die Füße ihres Stuhls kratzten über den Boden. Callie blieb sitzen, den Arm über die Lehne des neben ihr stehenden Stuhles gelehnt. Ein wahrer Gefühlssturm tobte in ihrem Inneren – Wut und Unbehagen und ein fürchterlicher Blitz aus Hoffnung und Sehnsucht –, aber sie behielt das für sich und tat ganz locker. „Hey“, sagte sie und stand endlich und widerstrebend auf.
„Selber hey.“ Der Blick ihrer Mutter glitt über sie. „Endlich hast du was an Gewicht verloren.“
„Ich bin an meinem Geburtstag zusammengebrochen und wäre beinahe gestorben“, erwiderte Callie und fragte sich, noch während sie sprach, wieso sie sich überhaupt die Mühe machte. „Bei mir wurde eine Insulinresistenz festgestellt. Das ist ein Vorläufer von Typ-2-Diabetes.“
Ihre Mutter verzog keine Miene. „Hättest halt nicht so dick werden dürfen.“
Keine Umarmung, kein Lächeln. Callie und ihre Mom waren längst über das Stadium hinaus, in dem sie noch so taten, als ob es eine Verbindung zwischen ihnen gäbe. Alle setzten sich, und Sonja Evans behielt ihr Pokerface bei, genau wie Callie es vermutet hatte. Aber sie war sowieso mehr an Kates Reaktion interessiert. Die Leute waren immer überrascht, wenn sie Callies Mom sahen. Überrascht, wie klein sie war und wie hübsch. Renee Zellweger mit einer aufgenähten Nummer auf ihrem Oberteil.
Kate wirkte ein wenig erstaunt, obwohl sie Sonjas Verbrecherfoto gesehen und somit gewusst hatte, was sie erwartete. Aber sie verbarg ihre Reaktion sehr gut und lächelte. „Mrs Evans, ich bin Kate Livingston. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“
Callies Mom trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. „Warum?“
„Hauptsächlich aus Neugierde.“ Kate lehnte sich zurück. Sie hatte garantiert nicht vor, irgendjemandem hier Honig ums Maul zu schmieren und so zu tun, als wenn sie aus Mitgefühl hier wäre. „Und weil ich für einen Artikel recherchiere. Ich hoffte, dass Sie gewillt wären, mit mir über Ihr Leben mit Callie zu sprechen.“
Sonjas dunkle Augen verengten sich. „Was für ein Artikel?“
„Er soll nächstes Jahr in der Vanity Fair erscheinen.“
„Also sind Sie eine Reporterin?“
„Freiberufliche Journalistin.“
„Und wenn ich keine Lust habe, Ihnen irgendwas zu erzählen?“
Kate faltete ihre Hände, sittsam wie eine Nonne in der Kirche. „Dann nutze ich die Gerichtsakten und Callies eigene Eindrücke.“
„Ach so, Sie schreiben einen Fantasieartikel.“
„Wie bitte?“ Kate klang höflich, aber die Frage war eine offene Herausforderung.
„Dieses Interview ist
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