Vertrau deinem Herzen
Kates Haus entfernt. Sie hatte eintausend Schüler und einen eigenen Radiosender. Kate hatte versprochen, Callie für den Fahrunterricht anzumelden und ihr später, wenn es so weit war, bei den Collegebewerbungen zu helfen.
College. Es war das erste Mal, dass jemand das als echte Möglichkeit für sie in Erwägung gezogen hatte. Für Kate schien das nur ein logischer Schritt nach der Highschool zu sein und ein durchaus erreichbares Ziel für Callie. Vielleicht hatte sie deshalb so viel Angst, sich dafür zu entscheiden. Aus Erfahrung wusste sie, dass es schlecht war, etwas zu sehr zu wollen. Sobald sie sich in den Kopf gesetzt hatte, etwas Bestimmtes zu wollen, wurde es ihr aus den Händen gerissen. Luke war das perfekte Beispiel dafür. Er hatte ihr die Hand zur Freundschaft gereicht, sogar angedeutet, dass da mehr sein könnte, und dann hatte er sie fallen lassen.
Das Leben, das Kate ihr schenken wollte, war genauso zerbrechlich. Doch Callie wollte das Angebot beinahe verzweifelt annehmen. Seit Kate ihr von der Idee erzählt hatte, lief Callie mit einem dicken Kloß im Hals herum. Sie konnte nicht anders, als sich vorzustellen, wie es wäre, für immer mit Kate und Aaron zusammenzuleben. Ein aufgeräumtes, ordentliches Zuhause zu haben, in das sie nach der Schule zurückkehrte. Mittagessen an einem runden Tisch. Jede Nacht ein eigenes Bett. Es war alles so ... märchenhaft. Genau die Art Geschichte, über die die Kinder in den Heimen und Pflegefamilien ihre Witze machten. Und Callie wusste auch, warum: um sich vor der unstillbaren Sehnsucht nach einem Zuhause und Geborgenheit zu schützen.
Sie zog eine Mauer aus Missmut um sich hoch und versank in noch tieferem Schweigen. Und Kate, die ihre Launen immer verstand, drängte sie auch nicht zum Reden, und sie drängte auch nicht auf eine Entscheidung. Aber irgendwann musste sie sich äußern, das wusste Callie. Später am Tag hatten sie noch einen Termin, um Kates Angebot mit Callies zuständigem Sachbearbeiter zu besprechen.
Aber erst mussten sie noch einen Halt einlegen. Callie riss den Blick von der vorbeifliegenden Landschaft und schaute auf den offiziell aussehenden Umschlag, der zwischen ihnen lag. Darauf war der Stempel des Washington State Frauengefängnisses, und darin waren ihre Passierscheine, um Callies Mutter zu besuchen.
Callie rutschte auf ihrem Sitz hin und her. Sie wünschte sich, sie könnte den Papieren neben sich entkommen.
„Es tut mir leid“, bemerkte Kate, als ob sie ihre Gedanken gelesen hätte. „Ich weiß, dass es hart ist ...“
„Weißt du nicht“, widersprach Callie. „Wie solltest du auch? Du hast nette Eltern und eine tolle Familie. Ich habe die Bilder gesehen, Kate, und die Geschichten gehört. Du hattest eine perfekte Kindheit, also kannst du unmöglich auch nur ahnen, wie es ist.“
„Weißt du, was ich glaube?“, fragte Kate. „Ich glaube, der alte Spruch stimmt: Es ist niemals zu spät, um eine glückliche Kindheit zu haben.“
„Ja, klar.“ Callie studierte eingehend ihre pfingstrosen-rosa lackierten Fingernägel.
„Du kannst immer noch sagen, wenn du deine Mutter nicht besuchen willst. Da es ja meine Idee war, kann ich auch alleine mit ihr sprechen.“
„Nein, ich mach das.“ Callie verspürte trotz allem eine kranke Loyalität ihrer Mutter gegenüber. Sie wollte sie sehen, ihre Stimme hören. „Du findest es bestimmt seltsam, dass ich überhaupt mit ihr in einem Raum sein will.“
„Mit deiner Mutter?“ Kate schüttelte den Kopf. „Das ist überhaupt nicht seltsam.“
„Auch wenn sie dem Widerling verfallen war, Timothy Stone? Und mich, nachdem da alles zusammengebrochen war, nach Washington geschleppt und da im Stich gelassen hat?“
„Du hast sie dir nicht ausgesucht, aber du hast sie trotzdem bekommen.“
Callie sagte nichts mehr. Sie hatte gelernt, sich nicht in die Karten schauen zu lassen, und alte Gewohnheiten waren schwer zu durchbrechen.
Im Gefängnis von Pury tat Kate so, als wäre das alles keine große Sache. Sie stellte ihr Auto auf dem Besucherparkplatz ab, zeigte ihre Ausweise am Tor vor. Sie war so ruhig, als sie die Granitstufen hinuntergingen. Sie wurden von Geräten durchleuchtet, die sie nicht berührten, sich aber trotzdem wie eine Belästigung anfühlten. Sie gingen durch ein Tor nach dem anderen; jedes schloss sich, bevor das nächste sich öffnete. Kate schien nervös zu sein, während sie all die Schiebetüren, die fluoreszierenden Stempel und die geschlossenen Räumen
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