Vertrau deinem Herzen
beendet“, sagte Callies Mom und stand auf, den Mund angeekelt verzogen. „Ich habe euch beiden nichts zu sagen.“
In diesem Moment traf Callie die Erkenntnis wie ein Schlag. Diese Frau war ihr niemals eine Mutter gewesen. Ihr ganzes Leben hatte sie gewartet und gehofft, dass ihre Mutter sich zu etwas entwickeln würde, was Kate in nur einem Sommer für sie geworden war. Und ihr wurde klar, dass sie sich all die Jahre an nichts festgehalten hatte – an Luft, an einer Idee von dem, was ihre Mutter für sie hätte sein sollen. Als würde man versuchen, einen Regentropfen zu fangen. Aber Kate war echt. Das Schlimme war nur, dass sie vielleicht nicht für immer da war.
Kate schwieg einen Moment. Callie hatte Angst, dass sie ihr Angebot erwähnen würde, Callie bei sich wohnen zu lassen. Sie hatten eigentlich abgemacht, dass sie erst darüber sprechen würden, wenn Callie eine Entscheidung getroffen hatte. Sie hoffte, dass Kate sich daran erinnerte.
Kate setzte ein kleines, kontrolliertes Lächeln auf. Dann nahm sie sorgfältig Block und Stift vom Tisch und stand auf.
Die Wache trat vor, um Sonja Evans zurück in ihre Zelle zu begleiten. Aber sie musste vorher noch eine letzte Sache loswerden. „Sie wird sie hintergehen, passen Sie nur gut auf! Sie wird sie so hintergehen, wie sie mich hintergangen hat, und dann werden wir ja sehen, wer hier Grund hat, so selbstgerecht zu sein.“
„Möchten Sie das vielleicht näher erläutern?“, fragte Kate.
„Das werden Sie schon noch herausfinden.“ Die Wache brachte sie zur Tür. Das Letzte, was Callies Mutter sagte, war: „Fragen Sie sie! Fragen Sie sie, wieso sie von ihrem letzten Zuhause weggelaufen ist. Fragen Sie sie, warum die nie versucht haben, sie zu finden.“
30. KAPITEL
A m See gab es selten Sommerstürme, aber manchmal sorgten die Berge für einen schnellen Wetterumschwung. Ende August bot die Natur schon einen kleinen Ausblick auf die kommende Jahreszeit. Die Luft wurde neblig, wenn die dicken Wolkenbänke über die Gipfel zogen und einen Wind mitbrachten, der durch die Schluchten um den See pfiff und fauchte. Kates Blick wanderte unwillkürlich zum Fenster, als das Wetter intensiver wurde und den Regen beinahe waagerecht über den See peitschte. Sie liebte die Dramatik eines guten Sturms mit seinem gedimmten, seltsamen Licht, der wie gepresst wirkenden dicken Luft, dem Geräusch des Windes, der an den Bäumen zerrte, und den auf das Dach trommelnden Regen. Es stimmte, dass ein idyllischer Sommertag am See etwas bezaubernd Schönes war. Doch ein Wetter wie dieses hier hatte seine ganz eigene Magie, die Futter für Kates melancholische Seite war und die Unruhe in ihrer Seele irgendwie zum Schweigen brachte.
Der kalte Wind aus den Bergen hatte sie frösteln lassen, und so hatte sie ein Feuer in dem großen Ofen entzündet, das den ganzen Tag brannte und seine bunten Flammen durch die Glasscheibe in der Ofentür durch den Raum tanzen ließ. Ihr gegenüber am Tisch saß Aaron und wechselte sich darin ab, eine detaillierte Landkarte eines Fantasieortes zu malen und mit seinen Soldatenfiguren zu spielen, die sich unter feindlichem Feuer von der Rückenlehne des Stuhls abseilten. Ab und zu hielt Kate in ihrer Arbeit inne und betrachtete ihren Sohn nachdenklich, doch sie sagte nichts, um ihn nicht in seiner Fantasiewelt zu stören. Seine Helden hatten schwer zu tun. Wie immer.
Callie war den ganzen Tag über produktiv gewesen. Sie hatte ihr Zimmer aufgeräumt und die Bettwäsche gewechselt, die Veranda gefegt und den Küchenboden gewischt, ohne darum gebeten worden zu sein. Sie behauptete, sich vom Regen eingesperrt zu fühlen; die Aktivitäten würden ihr helfen, nicht verrückt zu werden. Seit dem Besuch bei ihrer Mutter hatte sie nicht mehr darüber gesprochen. Weder um die Dinge, die Sonja Evans gesagt hatte, zu bestätigen, noch um sie zu verneinen. Aber Kate spürte eine Art Buße oder Sühne in Callies Aktivitäten und hörte wieder und wieder das Echo von Sonjas Worten ... Fragen Sie sie.
Sie atmete tief durch und fing Callies Blick auf. „Ich denke die ganze Zeit über etwas nach, was deine Mutter gesagt hat.“
Callie verengte die Augen. „Ja?“
„Darüber, wieso du Probleme mit deiner letzten Pflegefamilie hattest.“
„Das ist vorbei“, sagte Callie. „Das mit dem Ausreißen habe ich hinter mir.“
„Was hat sich geändert?“
Sie schaute zu Boden, dann hinüber zu Aaron. Er schien sie gar nicht wahrzunehmen, so vertieft war er in
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