Vertrau deinem Herzen
geboren worden, bevor Kate das Licht der Welt erblickt hatte. Mit der Feierlichkeit altertümlicher Rituale waren sie von Generation zu Generation weitergegeben worden. Ihr war aufgefallen, dass Aaron und seine Cousins – die Kinder von ihrem Bruder Phil – die Traditionen genauso begierig aufnahmen und weiterverfolgten, wie sie und Phil es als Kinder getan hatten.
Aaron kehrte mit Butterkeksen, Mini-M&Ms und Marshmallows zurück.
„Danke“, sagte Kate und legte die Sachen in den Wagen. „Ich glaube, das ist jetzt alles.“ Als sie durch den letzten Gang schoben, fiel ihr der Mann mit der John-Deere-Kappe wieder auf. Er schaute sich gerade interessiert die verschiedenen Angelköder an. Dieses Mal sah Aaron ihn auch. Für einen Moment spiegelte sich auf seinem Gesicht eine schmerzhafte Mischung aus Neugierde und Sehnsucht, als er näher heranging. Der Mann hakte seine Daumen in die hinteren Hosentaschen seiner Jeans, und Aaron tat es ihm nach. Je älter er wurde, desto mehr identifizierte sich Aaron mit Männern, wie es schien sogar mit Fremden im Supermarkt.
Kate ertappte sich dabei, wie sie das Objekt von Aarons Aufmerksamkeit ebenfalls interessiert musterte. Der Fremde war eine ungewöhnliche Mischung aus männlicher Attraktivität und hinterwäldlerischer Rauheit. Sie fragte sich, wie viel er vorhin wohl mitgehört hatte.
„Aaron“, sagte sie. „Wir müssen weiter.“ Sie drehte sich weg, um den Augenkontakt mit dem Fremden zu vermeiden, und gab vor, das Zeitschriftenregal durchzusehen. Was auch schon das höchste der Gefühle für sie war. Es war wirklich eine Schande, dass sie sich als Journalistin bezeichnete, aber überhaupt kein Interesse an den Medien hatte. Sie besaß keinen Fernseher, las keine Tageszeitungen und benahm sich im Großen und Ganzen überhaupt nicht so, wie man es angesichts ihres Jobs erwartet hätte. Ein weiteres persönliches Versagen ihrerseits. In ihrem ehemaligen Job hatte ihre ganze Arbeit darin bestanden, Seattles Modeszene zu beobachten.
„Die Stars der Reality-TV-Shows – was tun sie heute?“, fragte People.
„Ein Thema, das mich brennend interessiert“, murmelte Kate.
„Lass uns die hier mit dem zweiköpfigen Baby nehmen.“ Aaron zeigte auf eine der Illustrierten. Kate schüttelte den Kopf, auch wenn ihr Blick von einem kleineren Foto gefangen genommen wurde, auf dem ein Mann mit kantigem Kinn und durchdringendem Blick abgebildet war. Er trug einen militärischen Haarschnitt und einen flotten Schnurrbart. „Amerikanischer Held von Terrorsekte entführt“, lautete die Schlagzeile.
„Lass uns eine Fernsehzeitung mitnehmen“, schlug Aaron nun vor.
„Wir haben keinen Fernseher.“
„Dann kann ich wenigstens sehen, was ich verpasse. Warte ... Schau mal, Mom!“ Er schnappte sich eine Zeitung aus dem Regal und reichte sie ihr. „Deine Zeitung.“
Kates Hände fühlten sich mit einem Mal eiskalt an, als wenn sämtliche Nerven abgestorben wären. Sie hasste das Pochen in ihrer Kehle, das Zittern ihrer Finger, als sie die Zeitung entgegennahm. Es ist nur eine dumme Zeitung, sagte sie sich. Es waren die Seattle News, ein dummes kleines Wochenblatt, vollgestopft mit Artikeln über örtliche Musikbands, Poetry Slams, Filmkritiken und oberflächlichen Kulturbeiträgen. Neben Produktion und Layout war ihr Spezialgebiet in den letzten fünf Jahren Mode gewesen. Sie hatte fässerweise Tinte über die Angewohnheit der Einwohner Seattles verschrieben, Birkenstocksandalen mit Socken zu tragen. Oder um die Vor- und Nachteile von Piercings gegenüber Tätowierungen als Fashionstatement gegeneinander abzuwägen.
Offensichtlich nicht genügend Fässer, wenn man Sylvia, ihrer Herausgeberin, glauben konnte. Anstatt einer goldenen Nadel für ihr fünfjähriges Engagement hatte Kate die Kündigung bekommen.
Die Zeitung raschelte, als sie zu „ihrer“ Seite blätterte. Hier, über dem Falz, hatte ihre Kolumne seit dem ersten Tag gestanden. Nun strahlte ihr „Style Girl“ entgegen. Kate knirschte mit den Zähnen. Style Girl, die sich Wendy Norwich nannte, hieß tatsächlich Elsie Crump und war gerade erst aus der Poststelle befördert worden. Ihr heutiges Thema waren Sprühbräune-Studios.
Am unteren Ende der Seite, in kleiner, kursiver Schrift, stand folgender Satz: „Kates Mode-Meinung nimmt sich eine Auszeit.“
Das war’s. Ihr gesamtes Berufsleben in nur sieben Worten zusammengefasst.
„Was heißt Auszeit?“, wollte Aaron wissen.
„So etwas wie Urlaub“,
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