Vertrau deinem Herzen
zu dem Ort am Lake Crescent, aber in letzter Zeit hatte sich einiges verändert. Kates Bruder Phil, seine Frau und die vier Kinder waren an die Ostküste umgesiedelt. Ihre Mutter hatte nach fünfjähriger Witwenschaft am Valentinstag erneut geheiratet und war zu ihrem neuen Mann nach Florida gezogen. Zurück blieben Kate und Aaron in ihrem Haus in West Seattle, einen ganzen Kontinent vom Rest der Familie getrennt. Manchmal fühlte es sich an, als wenn jemand ihre engen Familienbande heimlich zerschnitten hatte und nun nach und nach aufribbelte.
Diesen Sommer gäbe es nur sie beide in dem Haus mit den sechs Schlafzimmern.
Hör auf, dich in Selbstmitleid zu suhlen! schalt sie sich und schenkte Mable Ciaire ein Lächeln. „Wie ist es dir in der Zwischenzeit ergangen?“, fragte sie.
„Alles in allem ganz gut.“ Vor zwei Jahren hatte Mable Ciaire ihren Ehemann verloren. „An manchen Tagen – den meisten Tagen – fühle ich mich immer noch verheiratet, als wenn Wilbur mich nicht wirklich verlassen hätte. An anderen Tagen erscheint er mir so weit entfernt wie die Sterne. Aber mir geht es gut. Mein Enkel Luke verbringt den Sommer bei mir.“
Kate füllte das Formular für die Müllabfuhr aus. Der Sommer hing verführerisch lang vor ihr, eine goldene Kette leerer Tage, die sie mit allem füllen konnte, wonach ihr war. Ein ganzer Sommer nur für sie alleine. Sie konnte sich so viel Zeit nehmen, wie sie wollte, um herauszufinden, was sie mit ihrem Leben, ihrem Sohn, ihrer Zukunft anstellen sollte.
Mable Ciaire musterte sie eindringlich. „Du siehst ein bisschen abgespannt aus.“
„Ich bin nur ein wenig erschöpft, denke ich.“
„Also nichts, was ein Sommer am See nicht wieder richten kann.“
Kate zwang sich zu einem Lächeln. „Genau.“ Aber plötzlich schien ihr ein Sommer nicht mehr lang genug.
„Auf der Suche nach einem Ehemann, so weit kommt’s noch“, murmelte Kate vor sich hin, als sie den Jeep vor dem Supermarkt abschloss. Ein Fenster hatte sie einen Spalt breit offen gelassen, damit Bandit frische Luft bekam. Aaron rannte bereits auf den Eingang zu. Verdammt, dachte Kate und schaute einem Mann nach, der über den Parkplatz ging, im Moment würde ich mich schon mit einem One-Night-Stand zufriedengeben.
Der Mann trug das für die Gegend typische Outfit: ein schlichtes weißes T-Shirt, ausgewaschene Jeans, derbe Boots und eine John-Deere-Kappe. Er war groß und breitschultrig und ging, nein, schritt mit beinahe militärischer Haltung. Dazu trug er etwas längere Haare und eine Pilotensonnenbrille. Oder war das etwa ein Vokuhila da unter der gelbgrünen Kappe? Igitt! Aus der Entfernung konnte sie es nicht genau erkennen. Gut, es sind nur die Haare, sagte sie sich, nichts, was nicht mit einem beherzten Griff zur Schere wiedergutzumachen wäre.
„Mom? Mom.“ Aarons Stimme durchbrach ihre Tagträume. Er rüttelte an dem Einkaufswagen, den er verwaist auf dem Parkplatz gefunden hatte.
„Du benimmst dich wie ein ungeduldiger Großstädter“, sagte sie.
„Ich bin ein ungeduldiger Großstädter“, erwiderte er.
Sie gingen an dem Schild mit dem riesigen lachenden Schweinchen vorbei, das den Eingang des Supermarktes be wachte, solange sich Kate zurückerinnern konnte. Auf der Angebotstafel stand: „ Geräucherter Schinken 99 Cent/Pfund“.
Worüber freust du dich so? dachte Kate und schaute das rosafarbene Schwein an. Drinnen machten sie und Aaron sich daran, die Vorräte für das Haus am See aufzufüllen, das seit dem Ende des letzten Sommers leer stand. Kate liebte dieses Ritual. Es war, als würde man noch mal ganz von vorne anfangen. Und dieses Mal, ohne ihre Mutter und ihren Bruder an der Seite, konnte sie alle Entscheidungen ganz alleine treffen. Was für eine Erfahrung!
„Mom? Mom.“ Aaron schaute sie finster an. „Du hörst mir überhaupt nicht zu.“
„Oh, tut mir leid, Großer.“ Sie suchte ein paar Pflaumen aus und legte sie in den Wagen. „Ich bin ein bisschen zerstreut.“
„Was du nicht sagst! Also bist du nun gefeuert worden oder nur vorübergehend entlassen?“, fragte er, während er sich an den Wagen klammerte und sich von ihr durch den Gang schieben ließ. Über den Berg Tüten und Kartons und Gemüsetüten hinweg schaute er sie unerbittlich an.
Sie erwiderte den Blick ihres neunjährigen Sohnes. Seine so seltsam erwachsen klingende Frage hatte sie völlig unvorbereitet getroffen.
„Vielleicht habe ich ja auch gekündigt“, sagte sie. „Darüber schon mal
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