Vertrauen statt Dominanz - Wendt, M: Vertrauen statt Dominanz
vielschichtiger und basiert nicht auf einer so schlichten linearen Rangordnung, wenn man sämtliche Ebenen des sozialen Miteinanders zusammen betrachten möchte.
In manchen Tiergesellschaften, etwa bei Katzen, existieren neben den vollwertigen Mitgliedern der Rangordnung auch noch sogenannte Paria, die keine wirkliche Bindung an die Gruppe haben, praktisch ausgestoßen sind und von allen Gruppenmitgliedern ignoriert werden. Gelegentlich wird man gerade bei sehr alten oder schwachen Pferden dieses Phänomen der Paria beobachten können.
Leithengst und Leitstute
In früheren Veröffentlichungen wurde das Alphatier als eine Art absolutistischer Herrscher dargestellt, der die alleinige Führungsgewalt auf allen Ebenen innehat. Je nachdem, ob es sich dabei um einen Hengst oder um eine Stute handelte, wurde vom Leithengst beziehungsweise der Leitstute gesprochen. Der Begriff des Leitens rührt daher, dass es sich hier um ein besonders erfahrenes Pferd handeln sollte, das in der Lage ist, die Gruppe in allen Lebenslagen zu führen und zu beschützen. Heute wird dagegen die Existenz uneingeschränkter Leitfiguren in der Pferdegesellschaft stark angezweifelt, denn nach der modernen Verhaltensbiologie kann kein Pferd in sämtlichen relevanten Lebensbereichen eine Führungsposition einnehmen.
Pferde sind von Natur aus sehr friedliebende Tiere. In menschlicher Obhut entstehen allerdings viele Konflikte durch die künstliche, häufig wechselnde Herdenzusammenstellung und die räumliche Enge.
Rangordnungen bei Stress und in menschlicher Obhut
Die Beobachtung von rangbezogenem Verhalten in menschlicher Obhut kann besonders schnell zu missverständlichen Schlussfolgerungen führen, denn bei unseren Reitpferden ist häufig im Vergleich zu wild lebenden Pferden eine Sonderform der Rangordnung vorzufinden. Zum einen führt die wiederholte Eingliederung neuer Pferde durch einen Stallwechsel dazu, dass sich die Tiere immer wieder neu mit Rangbildungsfragen auseinandersetzen müssen. Außerdem werden dabei oft innige Freundschaften auseinandergerissen und damit wichtige Sozialkontakte abrupt beendet. Diese künstlich zusammengestellten Pferdegemeinschaften stehen im Gegensatz zu einer natürlich gewachsenen Herde in der Wildbahn und zeichnen sich durch eine deutlich erhöhte Aggressionsbereitschaft aus.
Zudem erhöhen wir Menschen durch feste Fütterungszeiten auf einem begrenzten Raum zeitweise den Stresspegel der Tiere und beobachten dann ebenfalls eine vermehrte Aggressivität, während frei lebende Pferde ihre Nahrung über den ganzen Tag verteilt auf einem erheblich größeren Areal zu sich nehmen können. Durch die ständigen Auseinandersetzungen um Rangpositionen scheint die Hauspferdeherde wesentlich mehr Konfliktpotenzial zu besitzen. Diese unter dem Einfluss des Menschen stehende künstliche Herde gibt die ursprünglich friedliebende Natur der Pferde nur in einer Art verzerrtem Spiegelbild wieder.
Der Grad der Aggressivität ist weniger von der Rangposition abhängig als vom Kontext. Stuten mit Fohlen bei Fuß nehmen eine gesonderte Position in der Gruppe ein und reagieren häufig aggressiver als Stuten ohne Nachwuchs.
Situative Kontextabhängigkeit
Das zukünftige Verhalten eines Pferdes lässt sich niemals anhand seines mutmaßlichen Ranges vorhersagen, denn die Reaktion des Tieres wird entscheidend von der jeweiligen äußeren Situation und den inneren psychischen Zuständen mitbestimmt. Der gesamte situative Kontext und nicht der Rang allein entscheidet, welche Risiken Pferde in Kauf nehmen, um die eigenen Interessen zu wahren oder auch auf bestimmte Ressourcen zu verzichten.
Hat etwa ein rangniedriges Pferd sehr großen Durst, so wird es durchaus in der Lage sein, ein ansonsten höherstehendes Pferd von der Tränke zu vertreiben oder es zumindest kurzzeitig zu verdrängen. Es kann aufgrund eines bestimmten inneren Zustands - hier das übermächtige Durstgefühl - anders reagieren, als nach seinem eigentlichen Rang zu erwarten wäre. Die Handlungsbereitschaft des einzelnen Pferdes wird also maßgeblich von seinen inneren Zuständen bestimmt, wie beispielsweise der individuellen Risikobereitschaft, dem empfundenen Durstgefühl und dem Einfluss der vorausgegangenen Erlebnisse, welche dem menschlichen Beobachter von außen leider nicht zugänglich sind.
Gerade diese Vielzahl an verschiedenen Aspekten, die neben dem Rang eines Pferdes Einfluss auf dessen Verhalten haben, machen die Beschäftigung mit dem
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