Vertrauen statt Dominanz - Wendt, M: Vertrauen statt Dominanz
sozialen Gefüge der Pferdeherde so spannend - wir sollten daher die Pferde nicht eindimensional auf ihre scheinbare Rangposition reduzieren. Der Begriff Rangordnung impliziert häufig ein starres Hierarchiesystem innerhalb einer Pferdeherde, biologisch angemessener wäre hier jedoch die Vorstellung eines flexiblen Kollektivs. Die aktuellen wissenschaftlichen Beobachtungen deuten eher auf ein funktionelles Rotationsprinzip hin, in dem jedes Tier nach seinen individuellen Fähigkeiten eine sehr spezielle Rolle einnimmt. Jedes Individuum übt für eine begrenzte Zeitspanne sozusagen einen bestimmten „Beruf aus. Das bedeutet: Einzelne Tiere besitzen für einen eng umrissenen Aufgabenbereich herausragende Talente, die sie dann zum Wohle der gesamten Gruppe einsetzen können und die von den anderen Herdenmitgliedern anerkannt werden.
So kann etwa eine alte Stute aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung den optimalen Weg für die Wanderung der Gruppe vorgeben, während eine ganz andere Stute mithilfe ihres feinen Geruchssinns die beste Wasserstelle findet und dorthin die Führung übernimmt. In diesem Kollektiv besitzt der Haremshengst nur in Bezug auf die Fortpflanzung den höchsten Rang, ordnet sich jedoch wie die übrigen Mitglieder der Gemeinschaft in anderen Lebensbereichen unter und profitiert damit wie alle anderen auch von deren Spezialfähigkeiten. Kein Pferd ist pauschal ranghöher oder rangniedriger, sondern es erfüllt in dieser Gemeinschaft im Sinne einer temporären Arbeitsteilung eine wichtige Position. In diesem anpassungsfähigen Kollektiv gibt es so gesehen weder „das“ Alphatier noch „das“ Omegatier, sondern nur einzigartige und wertvolle Persönlichkeiten.
Rangbezogenes Verhalten im Wechselspiel der Hormone
Hengste haben im Jahresverlauf unterschiedlich große Konzentrationen des Geschlechtshormons Testosteron im Blut, was ihre rangbezogenen Verhaltensweisen eindeutig beeinflusst. Während ein niedriger Testosteronspiegel eher mit einer geringen Konfliktbereitschaft korreliert, führt ein erhöhter Testosteronspiegel zu vermehrten Rangstreitigkeiten. Neben dem jahreszeitlichen Verlauf kann der Testosteronspiegel auch sehr kurzfristig aufgrund einer bestimmten Situation, eines Kampfes oder einer Gefahrensituation erheblich schwanken und damit das Verhalten des männlichen Tieres rangunabhängig beeinflussen. Hengste, die ohne ständigen Kontakt zu Stuten leben, besitzen häufig eine sehr niedrige Testosteronkonzentration in ihrem Blut und sind daher wesentlich weniger aggressiv als Hengste, deren Testosteronwerte durch die Anwesenheit der Stuten permanent erhöht sind. Diese Haremshengste haben nämlich etwas zu verlieren und müssen auf mögliche Auseinandersetzungen mit fremden Hengsten besser vorbereitet sein.
Bei geschlechtsreifen Stuten spielt der monatliche Zyklus eine entscheidende Rolle im rangbezogenen Verhalten. Eine normalerweise rangniedrige Stute kann während der Rosse durch den Einfluss der weiblichen Geschlechtshormone in der Rangordnung zum Beispiel durch die gesteigerte Aggressivität eine höhere Position beanspruchen, da ihr rangbezogenes Verhalten hormonell gesteuert und verstärkt wird.
Der Hormonhaushalt ist ein wichtiges steuerndes Element im Organismus der Pferde. Er dient sowohl der körperlichen als auch der psychischen Anpassung an die Anforderungen der Natur und beeinflusst damit für uns unsichtbar die komplexe Rangordnung der Pferde.
Es ist biologisch gesehen ein Mythos, von einem prinzipiell dominanten oder klar subdominanten Pferd zu sprechen. Somit gibt es in der Pferdeherde weder das alleinige Alphatier noch ein eindeutiges Omegatier.
Wie oben, so unten
Möchte man nun die Rangstruktur einer Herde genauer beschreiben, so darf man nicht das Verhalten eines einzelnen Tieres betrachten, sondern muss stets das wechselseitige Verhältnis zweier Pferde zueinander genau identifizieren. Dabei wird leider heutzutage noch viel zu oft der Fehler begangen, sich zu sehr auf dominante, also ranganmaßende Verhaltensweisen der Pferde zu beschränken. Diese ranganmaßenden Gesten wie etwa das Drohen, Angreifen oder Imponieren erscheinen besonders spektakulär und werden daher unverhältnismäßig häufig zur Bestimmung einer Rangordnung verwendet. Bei dieser einseitigen Betrachtungsweise kann jedoch nicht der jeweils höhere Rang eines Tieres identifiziert werden, sondern wir können lediglich die Aggressivität der Kontrahenten bestimmen. Zudem entsteht hier
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