Verwechseljahre: Roman (German Edition)
chen und seitdem nicht mehr gesehen. Soweit wir wissen, wohnt er jetzt in Rom. Seine Mutter hat stolz berichtet, er habe die heiligen Weihen der Kirche empfangen. Nach dem Österreichaufenthalt hat sich der junge Herr anscheinend entschieden, in einen Orden einzutreten. Vielleicht schreiben Sie an die Frau Mutter, eine sehr respektable, hochanständige Dame, die hier in Florenz höchstes Ansehen genießt. Ebenso wie der Vater, Signor Dottore Bigotti, Richter am obersten Gericht der Stadt.
Wir wären Ihnen allerdings sehr verbunden, wenn Sie uns nicht als Quelle nennen würden. Egal, in welcher Angelegenheit Sie die Familie Bigotti zu kontaktieren wünschen: Wir möchten damit nichts zu tun haben, wollten Sie als Landsmännin aber auch nicht im Stich lassen.
Ich grüße Sie und hoffe, dass sich die Angelegenheit damit für uns erledigt hat.
F. Sturm.
»Aha«, sagte Rainer und ertränkte seinen Grillteller in einem halben Liter Bier. »Nicht im Stich lassen. Feine Herrschaften!«
Na ja, dass Rainer mich jemals im Stich gelassen hätte, konnte ich ihm wirklich nicht vorwerfen. Er stand zu mir, ob ich das nun wollte oder nicht. Im Moment wollte ich es allerdings. Ohne ihn wäre ich noch verrückt geworden. Ich seufzte laut auf und sog die milde Abendluft ein. Es tat so unendlich gut, mir einmal alles von der Seele zu reden! Hätte ich das doch alles Oliver erzählen können!, dachte ich sehnsüchtig. Er hatte ein Recht darauf, es zu erfahren. Ich hoffte so sehr, bald mit IHM hier zu sitzen. Es war mein innigster Wunsch. Aber nun war es eben Rainer Frohwein. »Man kann nicht alles haben«, hörte ich Mutter sagen. »Kind, nun bescheide dich auch mal.« Rainer schob den Teller weg, griff wieder nach meiner Hand und zog mich im wahrsten Sinne des Wortes über den Tisch.
»Hier!«, sagte er und zauberte einen winzigen Zettel aus seinem Fahrraddress. »Habe ich heute für dich geschrieben. Ich wollte es dir erst später geben, aber es passt gerade wie die Faust aufs Auge!«
Die grüne Tinte war ziemlich verlaufen, aber sein Gedicht war noch zu lesen.
Wieso kann man sich nur in einer Beziehung,
der von vorneherein Grenzen gesetzt sind,
ganz einfach fallen lassen?
Ich las das Gedicht und bekam Gänsehaut. Einerseits tat das verdammt gut. Endlich, ENDLICH konnte ich mich ganz einfach fallen lassen. Ich gefallenes Mädchen. Dreißig Jahre hatte ich über meine Schande geschwiegen und Mutter auch. Andererseits WAR ich kein armes Mädchen mehr. Ich war eine Frau in der Mitte ihres Lebens und hatte mir in den letzten dreißig Jahren viel erarbeitet. Auf Mitleid konnte ich gut verzichten. Im Gegenteil! Die Welt sollte mir gratulieren und sich mit mir freuen! Ich hatte Oliver gefunden! Ich konnte es immer noch nicht fassen!
Aber jetzt, wo Mutter sich so schlimm verletzt hatte und möglicherweise ein hundertprozentiger Pflegefall wurde, musste ich mir mit unserer Dreizimmerwohnung und meinem Vollzeitjob in der Bibliothek wirklich was einfallen lassen. Und NEIN , der Durchbruch zur Nachbarwohnung, der den Weg zu einer großzügigen Sechszimmerwohnung mit eifrigem Krankenpfleger geebnet hätte, stand NICHT zur Debatte. So bedürftig war ich nun auch wieder nicht.
Mit der freien Hand nahm ich den Zettel mit dem grünen Gedicht tief gerührt an mich und steckte ihn in die Handtasche.
Rainer griff nach seinem zweiten Bier und erklärte mir ent schuldigend, dass er seinen Flüssigkeitspegel ausgleichen müsse. Er sei immerhin achtzehn Kilometer geradelt. Gleichzeitig griff er mit seiner anderen Hand nach der meinen.
»Und? Habt ihr den guten Mann schließlich gefunden?«
Ja, meine Geschichte war noch lange nicht zu Ende.
Über Detektive, Anwälte und Übersetzer gelang es uns schließlich, einen Kontakt zu Alessandro Bigotti herzustellen. Er hieß nun Pater Giulio und war für die Welt nicht mehr zu sprechen. Ich war inzwischen im fünften Monat und hatte meinen Bürojob verloren. Der Chef, dem mein Missgeschick trotz kaschierender Gewänder nicht verborgen geblieben war, betonte, wie sehr er es bedaure, ein so fleißiges und tüchtiges Mädchen wie mich entlassen zu müssen, zumal meine Mutter vermutlich bald sterben werde. Doch aus moralischen Gründen könne er keine unverheiratete Schwangere beschäftigen. Das habe absolut nichts mit mir persönlich zu tun, aber er sei schließlich im Kirchenvorstand und könne nicht nach außen hin »pfui« und nach innen »hui« sagen. An diese Wortwahl erinnerte ich mich noch ganz
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