Verwechseljahre: Roman (German Edition)
in mein Nest stellst, bestimme ich die Regeln – und der Regenwurm wird mit deiner Schwester geteilt!« – »Wieso, die sitzt doch in ihrem Ei und schminkt sich seit Stunden den Schnabel!« –»Dann klopf an die Schale und sag, sie soll zum Frühstück kommen!« – »Pah, fällt mir doch nicht ein! Erstens hat die ’ n Zweig über den Ohren und hört Spatzenmusik, zweitens ist die sowieso magersüchtig und kotzt den Wurm wieder aus!« – »Dann putz dir wenigstens die Krallen auf dem Ast ab und schlepp mir hier keinen Vogeldreck rein! Außerdem stinkst du wie ein Specht!« – »Voll krass hysterisch mal wieder, die Alte! Tschilp! Ich mach mich vom Acker!« Wegflatter.
Ach, Carin. Deine Fantasie mal wieder.
Ich wärmte mich an meiner Kaffeetasse. Wie ich darauf brannte, Oliver meine ganze Geschichte zu erzählen! Gestern hatte er kein einziges Mal nach mir gefragt in seinem nicht abreißenden Redestrom. Fragten nach der Geburt weggegebene Kinder ihre leiblichen Eltern nicht zuerst nach dem Warum? Warum hast du mich weggegeben? Warum hast du mich nicht lieb gehabt? (Klischee, ich weiß.) So etwas las man doch immer in Büchern. Aber Herr Roman Stiller hatte anscheinend kein Interesse an diesen W-Fragen. Dabei verspürte ich den unbändigen Drang, mich zu rechtfertigen! Seit dreißig Jahren formulierte ich innerlich eine Entschuldigung, eine Erklärung, wie es zu alldem gekommen war. Dass ich nichts rückgängig hatte machen, das Kind nicht hatte finden können, sosehr ich die Kirchenbehörden auch drangsalierte. Denn die stellten sich taub und verwiesen auf die notariell beglaubigte Unterschrift. Das Kind sei nicht mehr in Bayern, mehr könne man mir nicht sagen. Man sei nicht mehr zuständig. ICH sei nicht mehr zuständig. Das Kind sei in den besten Händen. Das Kind habe kein Interesse und auch kein Recht, mich kennenzulernen. Die Eltern dieses Kindes hätten ausdrücklich jeden Kontakt untersagt. Ich solle das Kind in Frieden aufwachsen lassen. Wenn es erwachsen sei, werde es sich vielleicht irgendwann melden.
Und dieses Irgendwann war JETZT! Ich schloss kurz die Augen. Ein Gefühl der Unwirklichkeit erfasste mich. Ich hätte schreien können vor Glück! Aber das hätte nur Rainer auf den Plan geholt. »Ich wollte dich nicht hergeben, Oliver«, flüsterte ich in die sonntägliche Morgenstille hinein. »Ich habe es tausendmal bereut! Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte … Bitte gib mir eine Chance, es dir zu erklären!«
Die Kirchenglocken läuteten acht Mal.
Ich sprang auf und holte das Telefon. »Jetzt erkläre ich es dir«, murmelte ich entschlossen. »Es ist zwar noch ein bisschen früh, aber fast dreifache Väter sind um diese Zeit längst wach.«
Entschlossen wählte ich die Nummer. Es klingelte lange durch. Kein Anrufbeantworter sprang an.
»Mist, verdammter!«, stieß ich zwischen den Zähnen hervor. »Ich habe ja nur seine Nummer im Verlag.«
Ich trank den Kaffee aus, sprang auf und holte mir eine neue Tasse. Mit viel Milch. Das war tröstender.
»Warum habe ich bloß seine verfluchte Privatnummer nicht!«, murmelte ich verdrossen. »Oder seine Handynummer.« Aber gestern hatten wir ja keine Zeit gehabt, uns zu verabschieden. Ich hatte ihn im wahrsten Sinne des Wortes weggedrückt. Schon wieder!
Die Balkontür nebenan quietschte. Oje.
»Geht er nicht dran?« Rainers verschlafene Stimme klang noch sehr lädiert. »Mein armes Schnuckelmäuschen.«
»Könntest du mich einfach Carin nennen?« (Oder am besten wieder Frau Bergmann. Aber nach besagtem Zwischenfall ist diese Möglichkeit endgültig im Gulli.) O Gott. Warum hatte ich auch meine Herzensangelegenheiten vor ihm ausbreiten müssen. Ich hätte sie dem Taxifahrer erzählen sollen!
»Ich kann dir den Mann gerne googeln«, bot Rainer an.
»Rainer, ich KANN das! DANKE! «
Ob man aus diesem Frosch jemals einen Prinz machen konnte? Wenn man ihn mit Schmackes an die Wand klatschte? Wenn er … sagen wir mal drei Stunden am Tag Sport machte? Wenn man ihn modisch komplett umstylte, ihm eine coole Frisur verpasste?
Nein, denn dann wäre er ja nicht mehr Rainer.
Irgendjemanden auf dieser Welt musste es doch geben, der Rainer liebte, wie er war!
Ansonsten konnte ich schon Menschen lieben, wie sie waren.
Sonja liebte ich, wie sie war. (Außer wenn sie gerade hysterisch wurde.) Billi liebte ich, wie sie war. Vivian liebte ich, wie sie war. Meine Mutter liebte ich, wie sie war. OLIVER liebte ich – ja, wie WAR der denn? Keine Ahnung!
Weitere Kostenlose Bücher