Verwechseljahre: Roman (German Edition)
treffe«, begann ich zaghaft. »Er ist MEIN Sohn.«
»Natürlich.« Kurzes Nachdenken. »Obwohl: Für DICH ist er genauso fremd wie für MICH . Wir fangen gewissermaßen beide bei null an.«
Das war wieder seine Lehrerlogik. Am liebsten hätte er mir wahrscheinlich noch den Satz des Pythagoras in den Kies gemalt. Mitsamt gleichschenkligem Dreieck. Ich wurde trotzig.
» MEIN Sohn und ich fangen NICHT bei null an! Ich habe ihn drei Wochen gestillt! Das kann er doch nicht vergessen haben!« Meine Stimme war erschreckend schrill. »Dreieinhalb«, setzte ich mit gedämpfter Stimme hinzu.
»Vielleicht schlummert es noch bei ihm im Unterbewusstsein«, räumte Rainer ein. »Frühkindliche Prägung nennt man das. Kinder bekommen ja schon im Mutterleib die Gefühle und Ängste ihrer Mütter mit. Das habe ich in der elften Klasse unterrichtet.«
Hach! Ich brauchte seine altklugen Lehrerkommentare nicht! Was ging ihn das alles überhaupt an? Ich wollte in Ruhe meine Befindlichkeit ordnen, aber er wollte mir unbedingt dabei behilflich sein. Er hatte ja sonst nichts zu tun.
»Hast du denn schon wieder Muttergefühle entwickelt?«, fragte er interessiert, nachdem wir eine weitere Großfamilie überholt hatten. In meiner Wut ging ich ziemlich schnell.
»Hm? Magst du mir das sagen? Ein Stück weit?«
»Keine Ahnung«, sagte ich lahm.
Im Moment entwickelte ich im Sekundentakt Wutgefühle. Da hatten Muttergefühle gar keinen Platz.
»Ihr solltet euch vielleicht einen Mediator nehmen«, schlug Rainer vor. »Damit die Wogen nicht zu hoch schlagen. Ich hatte damals mit Dagmar einen. Sonst wären wir aufeinander losgegangen.«
Dagmar war Rainers Exfrau, die mitsamt Sohn Kyril in den Frankfurter Raum geflüchtet war. Irgendwie konnte ich mir gut vorstellen, dass Dagmar gern auf Rainer losgegangen wäre, ihm am liebsten den Kopf eingeschlagen hätte. Der lautmalerische Name des Sohnes klang nach gesplittertem Nasenbein. Ich biss mir auf die Lippen.
»Wenn du möchtest, dass ICH die Rolle des Mediators übernehme … Ich kann das gut!«
»Nein, nein«, sagte ich schnell. »Wir werden das schon irgendwie schaffen.«
»Wann trefft ihr euch denn?« Rainer war es wieder gelungen, meine Hand zu packen.
»Am liebsten sofort …« Ich warf die Arme ratlos in die Luft, ein kleiner Trick, um mich wieder zu befreien. »Aber ich weiß nicht, wie ich ihn erreichen kann!« Meine Hand war schon genauso feucht wie seine. Ich wischte sie an meinem Hosenbein ab.
»Eile mit Weile«, belehrte mich Rainer gütig. »Morgen ist er bestimmt wieder im Büro.«
Aber dem war nicht so. Obwohl ich am Montag von der Bibliothek aus im Fünfminutentakt bei ihm in Hamburg anrief, klingelte es penetrant durch.
Zu Hause hatte ich extra meine Büronummer und meine Handynummer auf den AB gesprochen: »In dringenden Fällen bin ich jederzeit unter … erreichbar.« (Und ich fand, das WAR ein dringender Fall!)
Rainer hatte noch angeboten, auch SEINE Nummer durchzugeben, er habe ja Zeit und könne jederzeit für mich ans Telefon gehen. Er könne auch gerne im Vorfeld »von Mann zu Mann« mit Oliver sprechen, aber das hatte ich dankend abgelehnt. Genauso wie sein Angebot, den ganzen Tag in meiner Wohnung zu sitzen und das Telefon zu bewachen. Ich würde den Kontakt zu meinem Sohn schon selbst wieder herstellen.
Aber Oliver rief nicht an und war auch nicht zu erreichen. Je öfter Rainer mir anbot, mich zu trösten, mich in den Arm zu nehmen oder wenigstens einen Kaffee mit mir zu trinken, umso dringender wurde mein Verlangen, auf ihn loszugehen. Rainer ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen: »Ich mag dich immer noch. Sogar wenn du zornig bist.« Und anstatt zu gehen, lehnte er sich an die Wohnungstür – leider von innen – und musterte mich forschend. »Du weißt hoffentlich, dass ich dir nur helfen will?«
Am Nachmittag besuchte ich Mutter im Krankenhaus. (Ohne Rainer. Ich war ein freier Mensch!) Sie war wach und konnte schon einige Sätze mit mir wechseln. Nachdem wir ihren ganzen Unfall noch einmal verhackstückt und besprochen hatten, warum sie aufs Höckerchen gestiegen war und was sie da genau wollte – sie erinnerte sich nicht mehr oder tat wenigstens so –, nahm ich ihre dünne Hand. »Weißt du, WARUM ich dir nicht sofort zu Hilfe geeilt bin?«
»Du warst am Telefon.« Sie betrachtete mich forschend.
»Bingo, Mutter! Und weißt du, wer dran war?«
»Rainer?!« Ihre müden Augen blitzten schelmisch auf. »Dann hätte mein Unfall ja noch
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