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Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Titel: Verwechseljahre: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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Insekt.
    »Aber gestern war ich dir noch gut genug, als ich dich vom Boden abkratzen musste.«
    »Rainer, dafür bin ich dir auch sehr dankbar. Wenn ich DICH nicht gehabt hätte …«, stammelte ich demütig.
    »Dann hättest du jemand anderen«, bemerkte er und kicherte selbstgefällig.
    Wow. Das war schlagfertig.
    Nein, dachte ich. Hätte ich nicht! Wen denn?
    Rainer schaute verschmitzt geradeaus. »Wir sollten mal wieder einen ausgedehnten Spaziergang zusammen machen. Hm? Magst du?«
    O Gott. Bitte alles, nur nicht das! In mir zog sich alles zu sammen. »Ich dachte, dein Körper braucht Ruhe.« Ich versuchte, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.
    »Oder gehen wir erst zu deiner Mutter?«, stellte Rainer sich taub.
    Wir. Natürlich. Wo wir sowieso schon in der Nähe des Herz-Jesu-Krankenhauses waren.
    Rainer hatte heute zur Feier des Tages ein klein kariertes, kurzärmliges Hemd an. In grüngrauverwaschengemustert. Und Sandalen mit grauen Socken. Verständlich, dass ich meinen Freundinnen nie von ihm erzählt hatte, oder? »Um Männer mit kurzärmligen Hemden muss man einen großen Bogen machen«, sagte Sonja immer. »Kurzärmlige Hemden gehen GAR nicht, Socken in Sandalen natürlich auch nicht.« Sie hätte mir die Freundschaft gekündigt, wenn sie mich mit ihm gesehen hätte. Billi hätte herzlich gelacht und gesagt: »Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn.« Und Mutter hätte gesagt: »Aber auf den CHARAKTER kommt es an. Nur DER zählt! Mode kommt und geht, aber der Charakter bleibt!«
    Ja, Charakter hatte er. Er stand mir bei, und dafür war ich ihm wirklich dankbar. Wir fuhren zum Krankenhaus und sahen mein armes Mütterchen im klein geblümten Krankenhausnachthemd schlafend im Bett liegen. Die Pflegerinnen hatten ihr die Zähne rausgenommen, und ihr Gesicht sah so eingefallen aus, als wäre sie tot. Mir kamen die Tränen.
    »Bitte, lieber Gott, lass sie jetzt nicht sterben!«, flüsterte ich überwältigt.
    Rainer legte beschützend den Arm um mich. »Schnuckelmaus«, beruhigte er mich fachmännisch. »Deine Mutter wird noch hundert.«
    Der diensthabende Arzt (ein anderer als gestern, aber ge nauso peinlich berührt) hielt uns für ein Ehepaar, sprach Rainer mit »Herr Bergmann« an und versicherte uns noch einmal, dass keine akute Lebensgefahr bestehe. Mutter sei nur in künstlichen Tiefschlaf versetzt worden, um die Schmerzen zu lindern. Spätestens morgen werde man sie wecken.
    »Ein freier Tag für uns!«, rief Rainer erfreut. »Komm, Schnuckelmaus, wir gehen was essen!«
    Obwohl ich dem Arzt einen Hilfe suchenden Blick zuwarf, eilte dieser mit wehendem Kittel davon. Rainer hingegen zog mich in den herrlichen Sommertag hinaus. Ich wollte nichts essen und Rainer auch nicht beim Essen zuschauen. (Fürs Schön trinken war es noch zu früh.) Als ich sagte, dass ich keinen Hunger habe, teilte er mir großzügig mit, er könne noch warten. Obwohl er gestern achtzehn Kilometer geradelt und sein Blutzuckerspiegel gefährlich niedrig sei, halte er es durchaus noch ein halbes Stündchen aus. »Vorfreude ist die schönste Freude«, sagte er lachend und zog mich so heftig an sich, dass ich an seine Schulter prallte.
    Siehst du!, hörte ich mein Mütterchen sagen. Eine feste Schulter zum Anlehnen.
    Wir liefen Hand in Hand am See entlang. Ständig begegneten uns glückliche Familien mit Kinderwagen, Dreirädchen und Puppenwagen. Auf dem Grasstreifen am Ufer lagerten weitere glückliche Familien auf bunten Wolldecken. Übermütige Kinder und Hunde sprangen ins Wasser. Das pralle Lebens eben. Und dann waren da noch wir zwei einsamen Seelen.
    »Nun sind wir auch bald eine glückliche Familie«, sagte Rainer zufrieden und seufzte.
    Schluck. Ich heirate eine Familie. (Hätte er ausgesehen wie Peter Weck in dem Film, hätte ich nichts dagegen gehabt.)
    »Wann werden wir unseren Familienzuwachs denn kennenlernen?«
    Ich sah ihn entsetzt an. Immer wenn es unauffällig möglich war, entzog ich ihm die Hand, aber da es warm war und ich keine Gelegenheit hatte, sie in eine Manteltasche zu stecken, hatte er leichtes Spiel. Wie selbstverständlich griff er nach ihr und hielt sie fest umklammert. Wenn uns Bekannte begegneten, barst er schier vor Stolz, während ich beschämt den Blick senkte. Es stand ihm förmlich auf der Stirnglatze geschrieben: »Da schaut her, Bürger von Butterblum! Ich habe die kühle Bibliothekarin erobert.«
    »Rainer, du hast hoffentlich Verständnis dafür, dass ich Oliver erst mal ALLEIN

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