Verwechseljahre: Roman (German Edition)
Vielleicht liebte ich ja Oliver, aber nicht Roman? Nun, das musste doch rauszufinden sein!
Es dauerte nicht lang, und ich googelte mir die Finger wund. »Stiller Hamburg«, tippte ich hastig ein. Und bevor ich auch nur einen weiteren Buchstaben schreiben konnte, erschien der Link zu einer tollen Homepage. Ich klickte darauf. Sofort erschienen riesige weiße Kreuzfahrtschiffe, die durch blaue Fluten glitten.
Stiller, Viktor. Reeder. Der Vater. (Na ja. Der Adoptivvater.) Das Porträt eines seriös wirkenden Mannes von Ende fünfzig erschien. Mit grau melierten Schläfen, vollem Haar, ernstem Blick, tadellosem Anzug, makellos weißem Hemd und passender Krawatte. Darunter standen die Namen seiner Schiffe. Er schien Musikliebhaber zu sein. Oder aber seine Mutter hatte ihn als Kind gezwungen, Klavier zu üben. (Vielleicht auch beides.)
Sonate, Sonatine, Etude (das war ein kleines), Symphonie (ein riesiges), Oper (ein noch riesigeres) und Operette (ein Tanzschiff). Das Flussschiff war etwas behäbiger und hieß Gavotte . Die Concerto Grosso, las ich, befand sich gerade im Bau.
DAS war mal ein Mann! Altersmäßig gleiches Baujahr wie Rainer. Aber kein bisschen früh pensioniert und vom Burn-out- Syndrom gebeutelt. Der hier stand voll im Leben!
Ich bekam Gänsehaut: Dieser mächtige Mann war also der Vater meines Jungen geworden! ER hatte damals vorm Haupteingang der Geburtsvilla geparkt. Mitsamt Gattin, die weiter unten ebenfalls auf dem Bildschirm erschien. Eine bildschöne, gepflegte Dame mit glänzendem nussfarbenem Haar. Schlank und hochgewachsen. Die Hamburger Reedersgattin warf gerade eine Champagnerflasche gegen den Bug eines Hochseekreu zers. Sie trug ein hellblaues Kostüm und einen breitkrempigen Hut (der ein bisschen so aussah wie eine übergroße tote Motte) und taufte ihn auf den Namen » MS Opera buffa «. Das Bild war schon etwas älter. Aus dem Jahr 2002.
Das Kostüm flatterte um ihre schlanken Beine, und die Leute, die ehrfürchtig um sie herumstanden, klatschten.
Wieder diese Gänsehaut. Sie also! SIE hatte meinen kleinen dunkelhaarigen Jungen im Arm gehabt, nachdem Schwester Mathilde ihn mir weggenommen hatte. Sie hatte seine kleinen runden Babybäckchen geküsst, sie hatte sein erstes Lächeln gesehen, und zu ihr hatte Oliver »Mama« gesagt. Sie hatte er mit seinen dunkelbraunen Augen fixiert. Nicht mich. Sie hatte er bis zu ihrem Tod für seine wirkliche Mama gehalten. Um ihren Fin ger hatte er seine Händchen geschlungen. Von ihr hatte er Sprechen, Laufen, Schleifebinden, Schwimmen, Radfahren, Lesen und Schreiben gelernt. Von mir hatte er nichts gelernt. Nichts. Von mir hatte er nicht mal was geahnt. Die Stillers hatten ihm seine Herkunft verschwiegen. Sie hatten mich ausgelöscht. Mich gab es gar nicht. Sie hatten meinem Oliver gar keine Chance gegeben. Während ich mit Mutter damals wieder bei null anfing, erneut die Schulbank drückte und in meiner Freizeit kellnern ging, um uns durchzubringen, glitten SIE mit MEINEM Kind auf Kreuzfahrtschiffen über die Weltmeere.
Ich musste die Augen schließen und den Laptop zuknallen. Das war mir gerade alles zu viel.
Es klingelte. Rainer erschien, frisch gewaschen und gekämmt. Er hatte wieder ein Gedicht gemacht.
Manchmal ist es richtig aufregend,
in den Augen der anderen
alles falsch zu machen.
Und wie!
»Hübsch«, sagte ich und lächelte schwach. Frust überkam mich. Und leichte Panik. Er gab ein wissendes Glucksen von sich. Sicher war er stolz darauf, mal so richtig über die Stränge geschlagen zu haben!
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte Rainer, nun wieder ganz der Alte.
»Nein danke, ich komm schon klar«, sagte ich matt.
»Verstehe. Vielleicht darf ich dann ausnahmsweise DICH um Hilfe bitten?« Er hatte ein Wasserglas in der Hand, in dem sich gerade eine Aspirin-Tablette auflöste.
»Wie meinst du das?«, fragte ich zerstreut.
»Ich könnte natürlich auch zum Biergarten JOGGEN und mein Auto abholen«, bemerkte Rainer spitz. »Aber ich bin gestern achtzehn Kilometer mit dem Rad gefahren, und mein Körper braucht Ruhe. Du könntest mich mit deinem Wagen hinbringen, wenn es dir nichts ausmacht.«
»Oh, Rainer, entschuldige!« Sofort sprang ich auf und fuhr Rainer zu seinem Wagen. Währenddessen streichelte er schüchtern meine Hand. Ich konnte mich ja schlecht daraufsetzen, während ich lenkte.
»Schnuckelmaus«, gurrte er verliebt, »wie geht es dir denn heute?«
»Rainer, bitte!« Ich schüttelte ihn ab wie ein lästiges
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