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Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Titel: Verwechseljahre: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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Er warf einen Seitenblick auf Rainer, der torkelnd seinen Hausschlüssel in den Untiefen seiner gepolsterten Radfahrerhose suchte.
    Ich unterdrückte ein müdes Kichern und hievte den verwirrten Rainer die Treppe hinauf.
    »Gute Nacht, Rainer. Geht’s?« Ich nahm ihm seinen Wohnungsschlüssel ab und schloss auf. »Schaffst du’s von hier aus?«
    »Kmmse nichmehrsumiraufnkaffee?« Seine dicken Daumen strichen mir über die Lippen. Ups! Er wollte mich küssen! Diese FAHNE!
    »Nee du, lass mal. Schlaf dich aus. Schließlich bist du heute unglaubliche achtzehn Kilometer mit dem Elektrofahrrad gefahren.«
    Rainer taumelte in seinen Bau, und ich flüchtete in meinen.
    Auf dem Wohnzimmertisch lag immer noch das Telefon. Seine Stimme! Oliver, mein Sohn. Verzeihung, Roman. Mein Kind. Ich hatte ihn wieder! Nach dreißig Jahren! Ein unkontrolliertes Jubeln entrang sich meiner Brust. Sollte ich weinen? Schreien? Singen? Das alles hätte ich getan, wenn das nur mit Mutter nicht passiert wäre. Heute würde ich ihn nicht mehr zurückrufen. Er sollte sich nicht belästigt fühlen. Es war weit nach Mitternacht. Wir hatten ja alle Zeit der Welt. Vielleicht würde ER MICH wieder anrufen? Morgen früh gleich? Oh, wie aufregend! Er hatte ja alle meine Nummern! Er wusste ja alles von mir! Ab jetzt würde uns nichts mehr trennen! Eine große Dankbarkeit ergriff mich. Fast zärtlich legte ich das Telefon wieder ins Aufladegerät. Am liebsten hätte ich ihm ein Küsschen gegeben. (Ja, Mütter in den Wechseljahren kommen auf die abwegigsten Ideen.)
    Ich ging ins Badezimmer und schreckte vor dem großen Blutfleck zurück. Ah ja, das Leben hatte mich wieder. Seufzend machte ich mich ans Putzen.

7
    A m Sonntagmorgen rief ich im Krankenhaus an und erfuhr, dass meine Mutter immer noch schlief. Es bestehe aber keine Lebensgefahr mehr, und die Wunde »sehe gut aus«.
    Na bitte!, dachte ich, während ich mir einen Kaffee machte. Mein armes Mütterchen haute so schnell nichts aus den Puschen. Das war sicherlich nicht ihr letzter Sommer. Nicht auszudenken, wenn sie es gar nicht mehr erfahren würde, dass sie einen Enkel hat! Na ja, das wusste sie ja schon. Aber dass sie Urenkel hatte! Und dass es Oliver gut ging! Dass er sich gemeldet hatte! Mich durchzog ein süßer Sehnsuchtsschmerz, gepaart mit flatteriger Aufregung. »Aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen!«, schoss mir eine Zeile aus Brahms deutschem Requiem durch den Kopf, die wundervollste Musik der Welt.
    Na ja. Von »Wiedersehen« konnte ja in dem Sinne keine Rede sein. Kennenlernen! Ich würde ihn kennenlernen. Mich zu einem Blinde Date verabreden! Wie aufregend war DAS DENN! Vielleicht würde er eine Rose im Knopfloch tragen oder eine FAZ neben sich liegen haben. Oder den Stern, kicher.
    Die Kaffeemaschine hustete und röchelte, ein vertrautes Geräusch, das bedeutete: Dein Getränk ist fertig. (Vielleicht lachte sie mich auch nur aus.)
    Kurz darauf trat ich mit meiner bauchigen Lieblingstasse auf den Balkon. Ein kurzer Blick nach nebenan verriet: Von Rainer fehlte jede Spur. Dafür türmte sich Staub auf seinen Balkon möbeln. Ich seufzte. Ja, dieser Mann brauchte eine Frau, die ihm Dampf machte. Aber ich war das ganz bestimmt nicht. Mich schauderte, als ich an den gestrigen Abend dachte. Zum Glück war nichts weiter passiert.
    Nein, nicht mehr dran denken.
    Die Rasenflächen glitzerten noch vom Morgentau, und ein Amselpärchen rief sich gegenseitig wütende Schmähungen zu. Ich versuchte, den Inhalt ihres Disputes zu begreifen. Vielleicht waren es zwei Männchen, die einander zu übertschilpen versuchten? Vielleicht ging es um ein Amselweibchen?
    »Ich mach die Alte klar.« – »Nein, ich!« – »Du hattest sie letztes Jahr, jetzt bin ich dran!«
    Oder war es ein Ehepaar, das Streit hatte?
    »Du liebst mich nicht mehr!« – »Doch!« – »Aber warum haben wir dann keinen Sex mehr? Tschilp!« – »DU willst doch nicht!« – »Doch!« – »Nein!« – »Doch! Bloß nicht hier auf der Hecke! Wir werden beobachtet! Siehst du nicht die Frau mit der Kaffeetasse auf dem Balkon?« – »Na, jetzt ist mir die Lust vergangen, jetzt mag ich auch nicht mehr!«
    Oder vielleicht Mutter und Sohn?!
    »Wo warst du, wo hast du dich die ganze Nacht rumgetrieben?« – »Ach, Mutter, halt doch den Schnabel! Ich bin schon ein halbes Jahr alt und weiß, was ich tue!« – »Plustere dich nicht so auf! Du hast doch überhaupt noch keinen Flügelschein! Solange du deine Krallen

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