Verwechseljahre: Roman (German Edition)
Finger, denn dafür hatte er seit jeher ein Talent. Seine Mutter habe Migräne und benötige die Kabine für sich allein. Sie sei absolut einverstanden mit diesem Zeitvertreib, solange er sie nicht störe. Und so trieb sich Roman immer öfter im Casino herum, manchmal nur, um mit den Croupiers zu plaudern, aber immer öfter auch, um sein Taschengeld zu verspielen. Natürlich hatte der Junge Anfängerglück. Die Einarmigen Banditen spuck ten unter lautem Klingeln und Scheppern über fünfzig Dollar aus, die der strahlende Junge unter dem Applaus und Gejubel der Anwesenden in Empfang nahm. Wenn er mal kein Glück hatte, steckten ihm die gelangweilten Amerikanerinnen Geld zu oder ließen ihn gleich für sich spielen.
»What a gorgeous boy!«
»Such a handsome young man!«
Er war das Maskottchen der einsamen Herzen, und schon bald war das Spielcasino sein zweites Zuhause. Er stand im Mittelpunkt. Und er genoss es.
»Haben Sie schon mal so ein Spielcasino gesehen?«, fragte Viktor Stiller.
»Na ja, nicht bewusst! Im Film vielleicht!«
»An den Einarmigen Banditen sitzen schon tagsüber gelangweilte Ladys und Gentlemen. Alle haben einen Riesenpappbecher mit Münzen auf dem Schoß, mit denen sie die Automaten füttern wie Rentner die Enten.«
Wie betäubt starrte ich mein Gegenüber an. Mein Sohn war spielsüchtig! Und suchte jetzt verzweifelt einen Ausweg aus dem Labyrinth seiner Sucht.
Viktor Stiller sprach weiter. Er erzählte, dass sich Romans schulische Leistungen nach dieser Weltreise extrem verschlechterten. Er blieb zweimal sitzen und musste die Schule wechseln. Statt zum Unterricht ging der inzwischen Fünfzehnjährige in Hamburgs Spielhöllen an der Reeperbahn und am Hauptbahnhof. Jeden Vormittag trieb er sich dort herum. Zwischendurch gewann er riesige Beträge, doch anstatt seine Schulden abzuzahlen, trug er das Geld erneut in die Automatenhallen. Er kam nicht mehr aus diesem Teufelskreis heraus! Wenn seine Mutter ihn bat, im Supermarkt einzukaufen, konnte sie gut und gern den ganzen Tag auf ihn warten, bis er schließlich ohne Einkäufe und ohne Geld wieder nach Hause kam. Er tischte seinen Eltern dann alle möglichen Geschichten auf: von Taschendieben, verpassten U-Bahnen, weshalb er ein teures Taxi habe nehmen müssen, von armen Bettlern, denen er spontan geholfen habe. Von üblen Machenschaften, in die er völlig unverschuldet hineingeraten sei. Von armen Kumpels, denen er doch nur aus der Patsche geholfen habe. Die kannten ihn und seine rege Fantasie, und irgendwann merkten sie, dass er log.
Ihr schlechtes Gewissen ihm gegenüber war riesengroß. Schließlich hatten sie ihn ein Leben lang über seine Herkunft belogen. Sie gingen mit ihm zu Psychologen und Suchttherapeu ten, aber nichts half. Kaum hatte er zehn Euro in der Hand, trug er sie wieder in die Daddelhalle. So ging das jahrelang, und Viktor und seine Frau waren mehrmals genötigt, ihm fünfstellige Beträge zur Verfügung zu stellen, um ihn aus heiklen Situationen »rauszupauken«. (Aha. Jetzt verstand ich!)
Schließlich schaffte er mit Ach und Krach auf einem teuren Privatgymnasium das Abitur. Indem er eine chronische Asthma erkrankung vortäuschte, gelang es ihm, sich vor Wehr- und Ersatzdienst zu drücken. Während des Studiums traf er Silke, die er mit seinem Charme bezirzte. Es zog ihn, den Rastlosen, zu ihr, der Bodenständigen, die in sich ruhte, gut zuhören und auf Menschen eingehen konnte.
Silke war von Berufs wegen auf Problemfälle spezialisiert. Als Sozialpädagogin hatte sie ein Herz für Schwache, Bedürftige und Gestrandete. Ihrem Helfersyndrom hatte sie es letztlich zu verdanken, dass sie zu seiner Frau wurde. Sie war sich ganz sicher, dem instabilen Roman Halt geben zu können. Und tatsächlich, Roman schien sich zu fangen. Die beiden gründeten eine Familie, und Roman machte Karriere. Bis zu dem Tag, an dem er das Tagebuch seiner Mutter fand. Da begann alles wieder von vorn. Wenn er nachts nicht nach Hause kam, erzählte er Silke was von Konferenzen, Sitzungen und endlosen Meetings im Verlag. Er konnte den Inhalt dieser Sitzungen minutiös wiedergeben, imitierte Kollegen und Vorgesetzte. Silke wollte ihm glauben. Sie sah das Gute in ihm. Bis sie sich der Realität stellen musste. Sie schleppte ihren Mann zu Sucht-Selbsthilfegruppen und drückte ihm die abgezählten Münzen für die S-Bahn und das Mittagessen in die Hand. Und er fühlte sich wie ein Schuljunge. Gedemütigt, entmündigt. Er konnte nicht anders, er musste
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