Verwechseljahre: Roman (German Edition)
Für mein Kind und für mich selbst.
Der zurückhaltende Reeder, den ich für arrogant und unnahbar gehalten hatte, war in Wahrheit ein verletzlicher, verletzter Mann, den ich am liebsten sofort umarmt hätte! Aber ich traute mich nicht. Ich zog die Nase hoch und suchte nach einem Taschentuch.
»Nein«, sagte Viktor blinzelnd. »Wir alle haben vieles nicht gewusst.« Aus seinem verzweifelten Gesichtsausdruck wurde der Versuch eines Lächelns. »Aber Sie sind ja total durchnässt!«
»Und sehe wahrscheinlich aus wie eine Vogelscheuche.« Verlegen wischte ich mir mit dem Taschentuch übers Gesicht. Die schwarz verschmierte Wimperntusche bewirkte, dass ich noch nie so undamenhaft ausgesehen hatte wie jetzt. Na toll!
»Kommen Sie, da vorne ist ein Gasthaus!« Viktor zog mich hinter sich her. Über den Parkplatz näherten wir uns dem Hintereingang. Meine Füße waren inzwischen fast abgestorben. Nie wieder würde ich so enge, hochhackige Dinger anziehen, um einem Mann zu gefallen! Dabei gefiel ich ihm offensichtlich auch in meinem jetzigen desolaten Zustand. Ich spürte es: Er mochte mich.
Er lächelte mich an: »Geht’s?«
Ein seltsames Gefühl keimte in mir auf, als ich so mit ihm Hand in Hand über den Parkplatz lief. Es war so ganz anders als das, was ich immer bei Rainer fühlte: Nicht Fluchtgedanken und Fremdschämen waren angesagt, sondern die Gewissheit »Das passt«. Am liebsten hätte ich seine Hand nie mehr losgelassen.
Heimelige Wärme schlug uns entgegen, als Viktor Stiller die Tür öffnete und mich vorgehen ließ. Ich hätte mir am liebsten die Stiefel von den Füßen gerissen und wäre auf Strümpfen weitergelaufen, stattdessen humpelte ich verbissen in den Gastraum. Am Stammtisch saßen einige Gestalten vor riesigen Bierkrügen und spielten Skat. Eine dicke Kellnerin in ländlicher Tracht schleppte üppig beladene Teller mit Schweinsbraten, Semmelknödeln und Sauerkraut in eine Sitzecke. Weiter hinten saßen zwei Familien beim Abendessen. Offensichtlich Urlauber, die hier ihre Herbstferien verbrachten. Die Kinder stocherten lustlos in ihren Pommes herum, und den Eltern war die Enttäuschung über das schlechte Wetter anzusehen.
Wir suchten uns einen runden Tisch in einer Nische, wo Viktor mir formvollendet aus dem Mantel half und mich auf der Bank vor dem grünen Kachelofen Platz nehmen ließ. Erst als ich erleichtert darauf niedergesunken war, drang zu mir durch, was meine Augen längst entdeckt hatten:
In der Nebennische saßen Rainer und Sonja.
23
S onja freute sich wie Bolle, als sie uns sah. Ihr war dieses Treffen kein bisschen peinlich. »Huhu«, rief sie und winkte, während Rainer buchstäblich der Semmelknödel im Hals stecken blieb. Sie sprang auf, kam zu unserem Tisch, riss ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und tupfte mir energisch im Gesicht herum.
»Man kann sie aber auch wirklich nicht alleine lassen!«, erklärte sie entschuldigend, während Viktor sie einigermaßen erstaunt anstarrte. »Ich hätte ihr vielleicht erklären müssen, dass dieses Make-up nicht wasserfest ist.« Sie streckte Viktor die Hand hin. »Ich bin’s, die Sonja! Erinnern Sie sich nicht? Carins Freundin, die bei Ihnen in Hamburg war!«
»Oh.« Viktors Lippen zuckten leicht, vielleicht eine winzige Spur spöttisch, oder war er einfach nur belustigt?
»Na, so ein Zufall!«, plapperte Sonja weiter. »Da gehe ich nichts ahnend mit Rainer essen, und wen treffen wir? Die Carin! Wenn man vom Teufel spricht …«, fügte sie noch zweideutig hinzu. »Nicht wahr, Rainer? Haben wir nicht gerade über Carin gesprochen? Und schwupps! sitzt sie da!«
»Wir … Wir sind in den Regen gekommen«, stammelte ich entschuldigend und vermied es, Rainer anzusehen. Der kritzelte wütend etwas auf einen Zettel. »Außerdem konnte ich mit diesen Mörderstiefeln keinen Schritt mehr gehen«, flüsterte ich Sonja zu. »Wie hältst du das bloß mit denen aus?«
Ich erwartete schon, dass sie zurückzischte: »Wie hältst du es bloß mit Rainer aus?«, als Viktor auf ihn zuging und ihm die Hand schüttelte. »Viktor Stiller, guten Abend.«
»Guten Abend«, sagte Rainer und schob mir mit funkelnden Augen den Zettel zu.
Weißt du,
dass
übermäßige
Zuneigung
blind machen kann –
blind
für die Realität?
Ich stopfte den Schrieb schnell in meine Handtasche. Was war eigentlich Realität? Seine war sicher eine andere als meine. Das war ja unser Problem!
»Wollt ihr euch nicht zu uns setzen?«
»O nein«, stammelte ich
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