Verwegene Herzen (German Edition)
hatte nach Blut gerochen. Sein Griff hätte der eines beliebigen erwachsenen Mannes sein können, zurückhaltend und unpersönlich. Er sprach nicht mehr als ein paar Worte, aber er klang gebildet. Trotzdem mochte sie ihn nicht. Sie war erschöpft und fand nichts, was sie für die fehlende Sehkraft entschädigen könnte. Bisher hatte es ihr nie etwas ausgemacht, auf die Ergebnisse ihrer Experimente zu warten,und ihre Vorhaben trugen nur Früchte,nachdem sie sie sorgfältig geplant hatte.Aber dieser Nachmittag war schneller vergangen als irgendein anderer bisher in ihrem Leben. Und jetzt wollte sie ebenso schnell eine Erklärung.
Wie wankelmütig die Menschen doch waren! Zuerst setzte er sein Leben aufs Spiel, um sie vor einer Gewalttat zu retten, nur um sie dann in den Wäldern im Stich zu lassen. Der Hinterhalt schien ihn beunruhigt zu haben, aber er hatte zugegeben, dass er Ada eingesperrt hatte und für den Sheriff arbeitete.
Ein unangenehm nagendes Schuldgefühl begleitete sie durch den Wald. Sie hätte wissen müssen, dass sie ein derartiges Schicksal erwartete. Kein Schwindel, wie klug er auch durchdacht sein mochte, konnte ewig ungestraft bleiben. Aber zwei erfolgreiche Jahre hatten ihr falsche Selbstgefälligkeit verliehen.
Schlimmer noch, selbst wenn es ihr gelang, für die Befreiung ihrer Schwester zu sorgen, würde sie sich darauf verlassen müssen, Fruchtbarkeitsmittel zu verkaufen anstelle von falschen Smaragden. Die Steine brachten mehr Gold als die Pottasche, und ohne das Gold würde sie mit ihren Experimenten aufhören müssen. Ada würde vermutlich heiraten, voller Verlangen nach einem besseren Leben – oder doch wenigstens nach einem eigenen Leben.
Ihre Miene verhärtete sich. Sie war dabei, etwas vollkommen Unmögliches zu wollen, und jetzt irrte sie auch noch in Charnwood umher, meilenweit von ihrem Zuhause entfernt. Ihrer betrügerischen Schwester zu folgen war genauso sinnlos wie ihr zu verzeihen, worauf Meg bisher auch eigensinnig verzichtet hatte. Aber sie hasste die Vorstellung, Ada zu verlieren.
Ihre Gedanken wurden ihr zum Verhängnis, als sie gegen einen Stein stieß. Schmerz schoss hinauf bis zu ihrem Knie, so heftig, als hätte ein wildes Tier sie gebissen.
Tränen brannten hinter ihren Lidern, und sie verfluchte ihre nutzlosen Augen, während sie Zorn und Kummer hinunterschluckte. Sie hatte gelernt, in den Menschen Mitleid zu wecken, aber auf gar keinen Fall wollte sie sich dem Selbstmitleid hingeben. Nicht schon wieder. Das war der sichere Weg in den Wahnsinn.
Sie kniete nieder und rieb sich den schmerzenden Zeh. Geschickt ertastete sie den handgroßen Stein und schleuderte ihn in die Wälder. Blätter raschelten, Vögel flatterten auf und störten die Stille des Waldes. Dann raschelte es wieder. Und noch einmal.
Wachsam richtete sie sich auf. „Wer …?“
Plötzlich fühlte sie große Hände auf ihrem Mund und um ihren Arm, und Gestank umfing sie. Als sie schreien wollte und den Mund öffnete, schmeckte sie Leder.
Scarlet ?
Aber nein. Der Mann, der sie an sich zog, war kleiner, und er roch schlecht. Seine näselnde Stimme bestätigte ihre Vermutung.„Haltet Euch fest, Miss. Ihr müsst mit uns kommen.“
Ihre Überraschung wich Verärgerung. Himmel, wie gern wäre sie ein Mann gewesen. Ein kräftiger Mann, der genau sehen konnte und über einen Spieß verfügte von der Größe eines kleinen Baumes. Jeden Räuber würde sie bewusstlos schlagen.
Stattdessen bohrte sie ihren Absatz in die Wade ihres Gegners. Dann biss sie fest zu, holte tief Luft und versetzte ihm einen Schlag. Sie spürte, wie seine Lippe unter ihren Fingerknöcheln aufplatzte. Der Mann schrie auf, aber er ließ nicht los, auch wenn sie sich noch so sehr wehrte.
Ein zweiter Mann mit langen, unbehandschuhten Fingern packte ihre Handgelenke. Dann spürte sie einen groben Strick auf ihrer Haut. „Das hätten wir.“
Die Männer ließen sie los, hielten aber den Strick fest und zogen sie mit sich, als wäre sie ein Tier. „Ihr habt kein Recht, mich festzuhalten. Ich habe nichts getan!“
„Darüber lassen wir Hendon entscheiden, Miss“, sagte der Kerl mit der näselnden Stimme.
„Hendon?“ Als ein Mann, der für Lord Whitstowe unter Waffen stand, sollte er sie beschützen, aber wenn Scarlet recht hatte und der Earl ermordet worden war, dann musste Hendon sich verstellt haben. Dennoch konnte sie dem, was Scarlet erzählte, ebenso wenig trauen wie den beiden Schurken, die sie durch Charnwood Forest
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