Verwesung
angerufen und mich entschuldigt. Ich brauchte Zeit für mich, um klarzukommen und meine Erinnerungen wieder loszuwerden.
Ich würde arbeiten.
Die Vergangenheit umwehte mich wie ein eiskalter Wind, als ich auf den Parkplatz der forensischen Abteilung fuhr. Nachdem ich von Norfolk zurück nach London gezogen war, war ich unsicher gewesen, ob ich wieder an meinen alten Arbeitsplatz in der Universität zurückkehren sollte, aus Furcht, dass mich alles an früher erinnern würde. Mittlerweile arbeitete ich seit drei Jahren wieder hier und gehörte praktisch zur Fakultät, hatte aber die Freiheit, mich ganz auf die Beratung der Polizei zu konzentrieren. Die Universität hatte mir eine feste Anstellung angeboten, doch bisher hatte ich mich nicht dazu durchringen können, sie anzunehmen. Die gegenwärtige Vereinbarung bewährte sich, selbst wenn sie mit einer gewissen Unsicherheit einherging, die ich gut ertragen konnte, schlug ich doch wegen meiner Erfahrungen in der Vergangenheit nur ungern allzu tiefe Wurzeln.
Die Gebäude waren sonntags geschlossen, aber ich kam oft zum Arbeiten her. Ich hatte meine eigenen Schlüssel und war es gewohnt, allein dort zu sein. Dennoch schaute ich mich auf dem leeren Parkplatz um, als ich zum Eingang ging. Es ist immer etwas beunruhigend, an einem normalerweise belebten öffentlichen Ort allein zu sein. Zwar machte ich mir keine Sorgen, dass Monk hinter mir her sein könnte, doch es gab andere Menschen, die mir tatsächlich gefährlichwerden konnten. Die Narbe auf meinem Bauch sollte mich immer daran erinnern, dass ich mich nie sicher fühlen durfte.
Die Abteilung der Forensischen Anthropologie befand sich im Kellergeschoss eines ehemaligen Krankenhauses. Man gelangte entweder mit einem quietschenden alten Fahrstuhl, der immer nach Desinfektionsmittel roch, dorthin oder über zwei Treppen. Wie üblich nahm ich die Treppen. Das Gebäude stand unter Denkmalschutz, und in dem Treppenhaus gab es noch die originalen viktorianischen Fliesen und Steinstufen. Als ich hinunterging, hallten meine Schritte durch das leere Gebäude.
Sobald man unten durch die Türen getreten war, befand man sich allerdings wieder im einundzwanzigsten Jahrhundert. Es gab mehrere Labors, die alle modern und gut ausgestattet waren. Mein Büro war an das Labor am Ende des Korridors angegliedert. Es war nicht gerade geräumig, aber groß genug für meine Zwecke. Ich schloss die Tür auf und schaltete das Licht an. Hier unten gab es keine Fenster, so blieb ich kurz stehen und wartete, während die grellen Neonröhren stotternd angingen.
Da die Heizung übers Wochenende runtergestellt wurde, war es kühl in dem Raum. Doch auch daran war ich gewöhnt. Mein Büro war zweckmäßig eingerichtet, der meiste Platz wurde von den alten Aktenschränken aus Metall und dem Schreibtisch eingenommen. Ich fuhr den Computer hoch, der fast den gesamten Schreibtisch in Anspruch nahm, und zog mir meinen weißen Laborkittel an, der hinter der Tür hing. Dann ging ich ins Labor.
Die grässlichen Aspekte meiner Arbeit, wie das sorgfältige Abtrennen des Gewebes von einer Leiche und dasAuskochen der Knochen in Lösungsmittel, wurden normalerweise in der Leichenhalle vorgenommen. Die meisten Überreste, die hierherkamen, hatten diesen Prozess bereits hinter sich oder waren so verwest, dass es sich nur noch um trockene Knochen handelte.
Im Moment arbeitete ich an einem Fall, bei dem das Erstere zutraf. Auf dem Untersuchungstisch aus Aluminium lag das von allem Fleisch und Gewebe befreite Teilskelett eines Mannes Mitte dreißig. Zumindest war das meine Vermutung. Das Geschlecht war durch die Form der Hüfte und die Größe der Knochen relativ einfach zu bestimmen gewesen. Das Alter hatte ich aufgrund des Zustandes der Rückenwirbel und des Grads der Abnutzung der Schambeinfuge geschätzt, also des Teils des Hüftknochens, wo die beiden Schambeine aufeinandertreffen.
Normalerweise erhält man über das Skelett weitere Hinweise, um Alter und Geschlecht zu bestimmen und außerdem die Person zu identifizieren, doch in diesem Fall traf das nicht zu. Das fortgeschrittene Stadium der Verwesung hatte darauf hingedeutet, dass dieser Mann, wer immer er sein mochte, vor mindestens zwei Jahren gestorben war, aber präziser hatte ich nicht werden können. Außerdem war es mir noch nicht möglich gewesen, eine Aussage über die Todesursache zu treffen. Im Grunde hatte ich nur mit Sicherheit konstatieren können, dass er ermordet worden war. Hatte ich es
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