Verwesung
mich nur trübsinnig und bedrückend, aber ich war zugegebenermaßen auch nicht gerade unvoreingenommen.
Ich hatte keine guten Erinnerungen an diesen Ort.
Der Himmel hatte nach Regen ausgesehen, doch bisher war es trocken geblieben. Trotz der niedrigen Wolken brach immer wieder die Sonne durch und ließ die Heide und den Ginster in erstaunlicher Klarheit erstrahlen, ehe sie wieder verschwand. Abgesehen von einem Stau, der mich veranlasst hatte, die M5 zu umfahren, war ich auf meinem Weg vonLondon gut vorangekommen. Obwohl ich zum ersten Mal seit Jahren wieder so weit im Westen war, merkte ich bald, dass ich mich an Teile der Strecke erinnern konnte und Dörfer wiedererkannte. Als ich dann das Moor erreichte, hatte ich das Gefühl, eine Zeitreise zu machen.
Ich passierte Hinweisschilder für fast vergessene Orte und Punkte in der Landschaft, die mein Gedächtnis wachrüttelten. Ich fuhr an der überwucherten Ruine der Wassermühle einer ehemaligen Zinnmine vorbei, von wo aus Monks Doppelgänger die Medien weggelockt hatte. Sie war noch mehr zugewachsen und sah kleiner aus als in meiner Erinnerung. Und dann konnte ich nach einer langgezogenen Kurve in der Ferne die Felsformation des Black Tor erkennen.
Ich bremste ein wenig ab, um sie mir anzuschauen. Obwohl ich natürlich gewusst hatte, dass ich sie gleich sehen würde, meinte ich, bei dem Anblick wieder den kühlen Nebel zu spüren und das Polizeiband im Wind flattern zu hören. Dann war ich an der Abzweigung vorbei. Ich schüttelte die Erinnerungen ab und fuhr weiter.
Oldwych lag am Rande eines Truppenübungsplatzes. Das Militär beanspruchte für Schieß- und Kampfübungen einen beträchtlichen Teil des Nationalparks, der allerdings meistens für den öffentlichen Verkehr freigegeben war, außer an den Tagen, an denen Übungen stattfanden.
Das war heute nicht der Fall. Ich fuhr an einem Warnschild vorbei, an dem aber nicht die rote Fahne hing, die anzeigte, wenn das Gebiet gesperrt war. Oldwych war ein seltsamer Ort, der sich offenbar nicht entscheiden konnte, ob er eine Stadt oder ein Dorf sein wollte. Nichts schien sich hier je zu verändern, zwar gab es am Ortsrand ein paar neuereHäuser, doch das Zentrum wirkte noch immer trist und reizlos. Die mit Kieselsteinen verputzten Cottages hatten mich damals an eine Küstenstadt erinnert, nur zeigten sie statt aufs Meer hinaus auf das leere, unbewegliche Moor.
Neben der Straße fuhr gemächlich ein Zug mit zwei Waggons an und schleppte sich langsam und wie erschöpft über das Moor.
The Trencherman’s Arms
war nicht weit vom winzigen Bahnhof entfernt. Als ich das letzte Mal hier gewesen war, hatte der Pub verfallen und kläglich ausgesehen, in der Zwischenzeit war jedoch das Dach neu gedeckt worden, und die Mauern hatten einen frischen Anstrich bekommen. Wenigstens ein paar Dinge hatten sich zum Besseren verändert.
Hinter dem Haus lag ein kleiner Parkplatz. Ich war merkwürdig nervös, als ich anhielt und den Motor ausschaltete. Ich sagte mir, dass es dafür keinen Grund gab, und ging zum Eingang. Die Tür, die in den Pub führte, war so niedrig, dass ich den Kopf einziehen musste. Drinnen war es dunkel, doch nachdem sich meine Augen darauf eingestellt hatten, sah ich, dass nicht nur das Strohdach neu war. Die Steinplatten am Boden wirkten wesentlich schöner als der schmierige Teppich, an den ich mich erinnerte, und die Velourstapete war durch sauberen Putz ersetzt worden.
Ein paar Tische waren besetzt, vor allem von Wanderern und Touristen, die zu Mittag aßen, doch die meisten waren leer. Ich sah schnell, dass Sophie noch nicht da war, aber ich war auch früh dran.
Ganz ruhig, sie ist wahrscheinlich auf dem Weg.
Hinter der Theke stand eine sympathische, pummelige Frau. Ich vermutete, dass der mürrische Wirt das gleiche Schicksal genommen hatte wie die alte Tapete und derbierfleckige Teppich. Ich bestellte einen Kaffee und ging zu einem der Kieferntische am Kamin. Es brannte zwar kein Feuer, doch er war mit frischen Scheiten gefüllt, und die Asche auf dem Rost ließ darauf schließen, dass sie nicht nur als Dekoration dalagen.
Ich trank einen Schluck Kaffee und fragte mich erneut, was Sophie wohl wollte. Es musste irgendetwas mit Jerome Monks Flucht zu tun haben, ich konnte mir jedoch partout nicht vorstellen, was. Mir war auch immer noch schleierhaft, warum sie sich ausgerechnet bei mir gemeldet hatte. Wir waren gut miteinander ausgekommen, aber ich hätte uns nicht als Freunde bezeichnet, und keiner
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