Verwesung
sonntags arbeiten. Ich hoffe, ich störe nicht.»
«Nein, ich bin nur ein bisschen überrascht, das ist alles.»
«Ich weiß, tut mir leid, ich will Sie nicht überrumpeln, aber …» Ich hörte, wie sie einatmete. «Äh, könnten wir uns irgendwann treffen?»
Der Tag war reich an Überraschungen. «Wegen Monk?»
«Das würde ich Ihnen lieber persönlich sagen. Ich verspreche, dass ich Sie nicht lange aufhalten werde.»
Sie versuchte es zu verbergen, aber ich konnte die Anspannung in ihrer Stimme hören. «Schon in Ordnung. Leben Sie noch in London?»
Wieder eine Pause. «Nein. Ich wohne jetzt in Dartmoor. In einem kleinen Dorf, Padbury.»
Auch das überraschte mich. Sophie hatte nicht wie ein ländlicher Typ gewirkt, obwohl ich mich erinnerte, dass sie gesagt hatte, sie würde das Moor mögen. «Dann haben Sie es also wahr gemacht.»
«Was? Ach so, ja, irgendwie.» Sie klang abgelenkt. «Hö ren Sie, ich weiß, es ist viel verlangt, aber wenn Sie mir ein paar Stunden opfern könnten, wäre ich wirklich dankbar. Bitte?!»
Die Unruhe in ihrer Stimme war unverkennbar, oder die Angst, die ihr zugrunde lag. Das klang ganz und gar nicht nach der selbstbewussten jungen Frau, an die ich mich erinnerte.
«Stecken Sie in Schwierigkeiten?»
«Nein, es ist nur … Ich werde Ihnen alles erzählen, wenn wir uns treffen.»
Ich sagte mir, dass ich mich nicht in einen fast zehn Jahre alten Fall verwickeln lassen sollte und dass das Herumwühlen in der Vergangenheit schmerzlich und sinnlos wäre. Andererseits war es im Grunde kein alter Fall mehr. Jetzt, wo Monk geflohen war, war er hochaktuell.
Außerdem meldete sich wieder dieses Nagen an meinem Unterbewusstsein. «Wie wäre es morgen?», hörte ich mich sagen. Heute war es zu spät.
Ihr war die Erleichterung selbst durchs Telefon anzuhören. «Das wäre großartig! Macht es Ihnen wirklich keine Umstände?»
«Ich bin froh über jede Gelegenheit, aus London rauszukommen.»
Bist du dir sicher, dass das der einzige Grund ist?
Ich ignorierte die ketzerische Stimme.
«Erinnern Sie sich noch an
The Trencherman’s Arms
in Oldwych?»
Der Name löste eine weitere Flut von Erinnerungen aus. Nicht nur gute. «Ja. Ist das Essen besser geworden?»
Sie lachte. Ich hatte vergessen, was für ein schönes Lachen sie hatte, unbefangen und voll. Es dauerte nicht lange. «Ein bisschen. Aber ein Treffen dort ist leichter, als Ihnen den Weg zu mir zu beschreiben. Können Sie es bis zum Mittagessen schaffen?»
Wir verabredeten eine Uhrzeit und tauschten unsere Handynummern aus. «Nochmal danke, David. Ich bin Ihnen wirklich dankbar», sagte Sophie, bevor sie auflegte.
Aber sie hatte nicht dankbar geklungen, sondern verzweifelt.
Nachdenklich ließ ich das Telefon sinken.
Tatsächlich, ein Tag der Wiedersehen.
Zuerst Terry Connors, nun Sophie Keller. Zwar hatte ich keine Ahnung, weshalb sie mich sehen wollte, aber ich bezweifelte, dass sie mich zufällig an dem Tag um ein Treffen bat, an dem Jerome Monk geflohen war. Und da sie sich nach so langer Zeit wieder meldete, musste es etwas Ernstes sein. Die Sophie, die ich kannte, hatte nicht den Eindruck gemacht, schnell in Panik zu geraten.
Aber acht Jahre waren eben eine lange Zeit. Die Menschen änderten sich. Ich fragte mich, ob sie sich verändert hatte, ob sie noch genauso aussah.
Ob sie verheiratet war.
Lass den Quatsch
, sagte ich mir, musste aber trotzdem lächeln. Ohne Vorwarnung erschauderte ich plötzlich. Ich schaute auf den Computermonitor, dessen Bildschirm völlig von dem scheußlichen Gesicht Jerome Monks ausgefüllt wurde. Die schwarzen Knopfaugen schienen mich zu beobachten,er hatte sein schiefes Grinsen aufgesetzt. Ich unterbrach die Internetverbindung, und das Foto verschwand.
Doch selbst danach hatte ich das Gefühl, seine Blicke zu spüren.
Kapitel 10
Ein paar violette Heidebüschel gab es noch, aber ansonsten hatte der Herbst der Landschaft schon alle Farbe genommen und das Moor mit dunklen Grün- und Brauntönen überzogen. Windumtost und trist breitete es sich aus, so weit das Auge reichte. Da die knietiefen Farnmeere allmählich verwelkten, wurde die Monotonie nur noch von haushohen Felsen und undurchdringlichen Ginsterdickichten durchbrochen.
Vor kurzem hatte mich ein Fall auf eine abgelegene schottische Insel geführt, die einsamer war als jeder Ort, den man sich vorstellen kann, die aber beeindruckende Ausblicke bot und eine gewisse Erhabenheit hatte. Dieser Teil von Dartmoor dagegen wirkte auf
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