Verwüstung: Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges (German Edition)
starken Dogmatismus der Zeit hatte deformieren lassen. Dem harten und poesielosen Luthertum, das in ihrem Reich lange Zeit alleinherrschend gewesen war, hatte sie nie zugeneigt. Der lutherische Protestantismus hatte als ein wirklich revolutionärer Glaube begonnen, der von Wahrheit und Befreiung sprach, doch wie alle revolutionären Ideensysteme war er im Verlauf des Kampfs um sein Überleben und des Streitens für seinen Sieg verzerrt, erstarrt und teilweise in sein Gegenteil verkehrt worden. Aufgrund ihrer Abneigung gegen die Lehre von der Prädestination konnte Christina auch den Protestantismus in seiner calvinistischen Form nicht ertragen. Mit all den schiefen und giftigen Vorurteilen der protestantischen Geistlichkeit gegenüber dem Katholizismus aufgewachsen, hatte sie auch von dieser Lehre schon lange Abstand genommen, weshalb sie sich stattdessen, wie sie selbst später schrieb, «eine eigene Art von Religion» schuf. Aber irgendetwas passierte in diesen Jahren um 1650 . Der lange, sinnlose Krieg in Deutschland hatte wie gesagt schlechte Zeiten für orthodoxe Ideologien und religiöse Fanatiker gebracht. Sowohl Katholiken als auch Protestanten zeigten vielmehr eine neue Bereitwilligkeit, die Nase über den Rand ihrer alten und jetzt von Kratern zerrissenen Schützengräben zu heben und tatsächlich miteinander zu sprechen. Die offene Atmosphäre am schwedischen Hof war keineswegs etwas Einzigartiges. So war der Zeitgeist in großen Teilen Europas nach dem Krieg.
Christinas Unruhe hatte mit den Jahren nur noch zugenommen; die sonderbaren nächtlichen Ausritte mehrten sich, und gegen Ende 1651 hatte sie mehrere seltsame Schwindelanfälle, die bis zu einer Stunde dauern und dazu führen konnten, dass sie zeitweilig nicht imstande war zu sprechen. Offenbar waren dies zum Teil Symptome einer seelischen und geistigen Krise. Und nun begegnete die suchende Christina in offenen und ehrlichen Diskussionen einer Reihe überzeugter und reifer Katholiken, die ihr zeigen konnten, dass ihre bisherige Distanzierung vom Katholizismus auf Irrtümern und Missverständnissen aufbaute. Und es verschlug ihr die Sprache.
Bereits 1650 hatte sie stille Kontakte mit heimlichen Jesuitenagenten unterhalten, die sich am Hof aufhielten. Ihr vielleicht einflussreichster Gesprächspartner war indessen der französische Ambassadeur Chanut. Dieser entstammte einer reichen bürgerlichen Familie und hatte sich, wie dies in Frankreich häufig der Fall war, sein erstes Amt gekauft. Bald erwies er sich als ein Mann von Prinzipien, tüchtig, fleißig, anspruchslos – eine ziemlich seltene Eigenschaft unter den streitsüchtigen Diplomaten dieser Zeit – sowie – was noch einzigartiger war unter seinesgleichen – unbestechlich. Außerdem war er gebildet, verkehrte mit tonangebenden literarischen Kreisen in Paris und war einer von Descartes’ besten Freunden. (Es war Chanut gewesen, der den Kontakt zwischen dem Philosophen und Christina hergestellt hatte.) Chanut war auch gläubiger Katholik und hatte die Sicherheit, derer es bedurfte, um sich der jungen Königin zu nähern, und die intellektuelle Autorität, derer es bedurfte, um erfolgreich zu sein. Nach einer Zeit langer Gespräche ging er dazu über, höchst zielbewusst auf die Bekehrung der suchenden Christina zum Katholizismus hinzuarbeiten.
Chanut konnte nicht nur mit Nahrung für Christinas hungrige Seele locken. Er konnte auch mit einer katholischen Mittelmeerwelt locken, die kulturell und intellektuell so unendlich viel reicher war als das karge und kalte
Svea Rike.
Ein ansehnlicher Strom von Gelehrsamkeit und schöner Literatur war zwar an den Hof in Stockholm gelenkt worden, aber die reiche Quelle – die großen Höfe, die bedeutenden Universitäten, die wichtigen literarischen Salons, die wirklichen Kunstschätze – waren unten auf dem Kontinent. Außerdem wies dieser hochkulturelle Strom aus Europa eine bedauernswerte Tendenz auf, von Zeit zu Zeit zu versiegen: Viele Gelehrte gaben nur brillante kleine Gastspiele in Stockholm, schrieben, diskutierten, intrigierten und stritten, worauf sie, mit königlichen Gunstbeweisen schwer beladen, sogleich wieder auf Schiffen mit irgendeinem fernen Ziel verschwanden. Sowohl die berühmten Männer als auch ihre königliche Patronin, die Nordische Minerva, fanden die schwedische Erde etwas karg. Und so entschied sie sich.
Im Frühjahr sandten die jesuitischen Agenten aus Stockholm Berichte, dass Christina nun entschlossen sei, zum
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