Verwüstung - Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges
festgenagelt von dem Gewicht eines vorgebeugten Mannes, der ihn festhält und gleichzeitig die richtige Stelle für einen Stoß mit seinem Degen sucht. In der Bildmitte sieht man eine Karrette: Soldaten umschwärmen sie wie Insekten. Der Kutscher ist gerade vom Kutschbock gestoßen worden und fällt rücklings mit ausgebreiteten Armen wie ein Gekreuzigter. Einige Passagiere zeigen sich an der geöffneten Wagentür und starren mit einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen auf den stacheligen Halbkreis von Mündungen und Pikenspitzen, der sich um sie schließt. Im Vordergrund sieht man den höchst logischen Schlusspunkt des Angriffs: eine ausgeplünderte Leiche, ohne Hosen, halbnackt, die gebeugten Knie leicht angezogen. Neben dem Toten liegt sein durchsuchtes Gepäck, auseinandergerissen und verstreut. Und in einiger Entfernung am Himmel sind Vögel zu erkennen – es könnten Raben sein.
Über den Überfall, der bei Calbe stattfand, wissen wir fast nichts, außer dass zahlreiche Mitglieder der Gesellschaft getötet wurden und dass einer von diesen Theophili war, der also in den allerletzten Tagen des Krieges fiel. Es ist sehr gut denkbar, dass das gleiche unheilvolle Schicksal Erik ereilt hätte, wenn sein nepotischer Dienstherr ihm nicht Theophili vorgezogen hätte.
Mardefelt und seiner Frau war daran gelegen, den Leichnam Theophilis zu bergen, und es gelang ihnen, Erik zu überreden, diesen Auftrag anzunehmen. Es war stets schwer, eine einzelne Leiche zu retten. In dieser Zeit wurden die Gefallenen in der Regel ohne größere Ehrfurcht behandelt. Nachdem man die Toten ihrer Kleidung, Ausrüstung und alles dessen beraubt hatte, das auch nur den Schatten eines Werts hatte, wurden die nackten Körper zuweilen ganz einfach liegengelassen, unbegraben und von allen verlassen, außer von den Fliegen und den Vögeln des Himmels:
Uns haben starke Regenschauer ausgelaugt, gewaschen,
von schwerer Sonnenglut sind wir geschwärzt, verbrannt.
In unsern Augenhöhlen fanden Raben was zu naschen,
und pickten rein die Haut, wo Haar und Bart uns stand.
Man konnte auf alte Schlachtfelder stoßen, wo die Gebeine Gefallener noch nach zehn bis zwanzig Jahren wie weißer, rasselnder Kies verstreut lagen. Wenn man die Zeit und die Möglichkeit hatte, kümmerte man sich meistens um die eigenen Gefallenen, aber es gab Unterschiede zwischen Toten und Toten. Gemeine Soldaten wurden ohne größeres Zeremoniell an Ort und Stelle begraben, während Offiziere in einer nahegelegenen Kirche bestattet wurden. Die Leichname hochgestellter Personen wurden in der Regel sorgsam geborgen, vorausgesetzt, dass man sie finden und identifizieren konnte: nicht zuletzt, weil man erwartete, dass die Familie es sich etwas kosten lassen würde, wenn der Tote nach Hause überführt wurde.
Nachdem Erik von Mardefelts Ehefrau ein Leichenhemd bekommen hatte, in das er den Toten kleiden sollte, reiste er Ende September 1648 nach Süden. Calbe an der Saale lag mitten in Deutschland, nicht weit von Magdeburg. Die Reise war streckenweise gefährlich, weil sie durch Wälder führte, in denen es von Wegelagerern, Spitzbuben und Marodeuren wimmelte. Nach drei Wochen erreichte er Calbe, das in einer waldigen und hügeligen Gegend lag, wie eingezwängt in eine scharfe Biegung der Saale. Erik fand den Körper des Freundes in einer der vielen Kirchen der Stadt. Offenbar war die Leiche schon in den Zustand fortgeschrittener Verwesung übergegangen, denn Erik hatte Schwierigkeiten, dem Toten das mitgesandte Leichenhemd anzulegen, und er war gezwungen, für den Rücktransport nach Demmin einen doppelten Sarg machen zu lassen. Es ist möglich, dass ihn hier bereits die große Neuigkeit erreichte, doch es ist nicht gerade wahrscheinlich. Seinem Tagebuch nach zu urteilen, war er genau wie die meisten Menschen in Deutschland offenbar lange in vollkommener Unwissenheit über das, was geschehen war.
Wie Personen und Güter bewegten sich auch Nachrichten im Allgemeinen mit großer Langsamkeit. In der vorindustriellen Gesellschaft gab es lange Zeit keine organisierte Verbreitung von Nachrichten. Die meisten Informationen erreichten die Menschen in Form von Gerüchten, durch Hörensagen und Klatsch. Vieles war freie Erfindung. Ebenso kam bewusste Desinformation vor, doch selbst korrekte Informationen wurden auf ihrem langen Weg von Mund zu Mund häufig verzerrt, karikiert oder aufgebläht. Bestimmte Neuigkeiten wurden auch in Form von Reimdichtung, Bänkelsang und Liedern
Weitere Kostenlose Bücher