Verwüstung
Scherz. »Du sprichst eine andere Sprache, Mira.«
»Das letzte Mal, als ich mir das genauer überlegt habe, war es immer noch Englisch. Aber wenn du Probleme mit Englisch hast, Leo, dann mache ich es auch in Morsezeichen.«
Seine Wangen röteten sich. Sie hatte ihn dumm dastehen lassen, aber bei Gott, er hatte es verdient. Dillard hob beschwichtigend die Hände, als hätte er es mit einem wilden, unberechenbaren Dobermann zu tun. Aus irgendeinem Grunde fiel ihr auf, dass seine Nägel abgekaut waren, eine eigenartige Angewohnheit für einen erwachsenen Mann. »Okay, mach weiter. Ich halte den Mund.«
Sheppard und Goot standen stumm hinter Dillard und bemühten sich, ihr Vergnügen darüber, dass Dillard zurechtgewiesen worden war, nicht zu deutlich zu zeigen.
»Geh mit den beiden.« Mira deutete auf Sheppard und Goot. »Bleibt mindestens vier Meter hinter mir, damit ich nichts von euch wahrnehme.«
Sie wandte sich ab und ging schnell vorwärts, Annie und die Hündin neben sich. Ihre Konzentration war ins Wanken geraten, und sie musste sich mithilfe der Techniken, die Nadine ihr vor Jahren beigebracht hatte, zurück in den Fluss zwingen: tief durchatmen durch wechselnde Nasenlöcher, die Augen in Richtung Stirn verdrehen, tiefe Zwerchfellatmung, Konzentration auf die Mitte ihres Solarplexus. Langsam verspürte sie einen inneren Wandel, dann war sie bereit, wieder in die Spur einzutauchen.
Eine Kreuzung weiter blieb sie stehen und zeigte nach links. »Er wurde von einem Polizisten angehalten.«
»Hier?« Dillard kam näher, aber nicht zu nah. »Genau hier?«
»Ja.«
»Der schwarze Lieferwagen?«
»Davon rede ich doch die ganze Zeit, oder?«
Ihre Gereiztheit perlte an Dillard ab. »Meine Güte, das ist toll, Mira. Das ist wunderbar.«
Er zog sofort sein Handy heraus und bellte Emison Befehle zu, und Mira stand da, das Tütchen mit dem Ohrschmuck darin immer noch zwischen den Handflächen. Warum war der Ohrschmuck in einem Tütchen? Er war kein Beweisstück. Sie wussten, wem er gehörte, und sie musste das Metall des Ohrschmucks auf ihrer bloßen Haut spüren. Metall war ein ausgezeichneter Leiter für emotionale Energie, aber mit einer Lage Plastik zwischen ihr und dem Metall war es, als versuchte man, die Sonnenwärme einer Rispentomate zu spüren, behielt aber seine Gärtnerhandschuhe an. Sie riss das Tütchen auf und zog einen Ohrring heraus.
Der wurde fast augenblicklich heiß, und gerade als sie begann, Bilder zu sehen, eilte Dillard auf sie zu und berührte ihren Arm …
… und sie sieht ihn in einer Bank, einem Kasino, er streitet mit einer Frau, er spricht leise am Handy, er trifft sich mit jemandem in einer dunklen Gasse … Geld wechselt die Hände …
… Und jetzt begutachten Dillard und ein Mann in einer Militäruniform eine Ruine voller Leichen, sie sprechen drängend und verängstigt miteinander …
… er streitet mit seiner Frau …
… mit seinen Kindern …
Die Bilder schießen so schnell und kraftvoll auf sie zu, dass sie keine Luft mehr bekommt …
Mira zuckte zurück, sie erschrak dabei genauso sehr wie Dillard, der stammelte: »Was? Was ist?«
» Du darfst mich nicht anfassen, während ich so etwas mache! «, schrie sie ihn an, und ihre Reaktion war so vollkommen unangemessen, dass sie sich augenblicklich schämte. Sie rieb sich die Augen, und als sie weitersprach, war ihre Stimme tiefer, aber so angespannt wie eine frisch aufgezogene Gitarrenseite. »Wenn ich mich so öffne, Leo, und jemand mich berührt … dann ist deren Energie das, was ich sehe.« Ihre Hände bewegten sich instinktiv wieder in die Mitte ihrer Brust, sie rieb einen dort nachklingenden Schmerz. »Du hattest vor Kurzem eine Lungenentzündung.« Sie hatte das nicht sagen wollen, hatte es noch nicht einmal bewusst wahrgenommen, aber die Worte drangen einfach aus ihrem Mund. »Du bist krank geworden nach einem heftigen Streit mit deiner Frau, und …« Sie unterbrach sich. Scheiße, scheiße, halt den Mund.
»Wie …« Er unterbrach sich. »Als ich dich berührt habe?«
Sie nickte und wandte den Blick eilig von ihm ab. Sie war sicher, dass er sie fragen wollte, was sie noch gesehen hatte. Dass dein Leben ein Haufen Scheiße ist, Leo, und du bis zum Hals verschuldet bist. Und was war das mit den herumliegenden Leichen? Wo war das?
Mira ließ den Ohrring zurück in das Tütchen fallen und streckte es Dillard entgegen. Mit den Fingern streichelte sie den Stein an ihrem Hals, auf dessen Tragen Nadine bestanden
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