Verwüstung
ihre Nummer gegeben oder für ihn gewählt hatte. Ganz egal – sie wusste, dass er im Grunde recht hatte. Sie hatte sich verführen lassen von Dillards Geld und der lächerlichen Hoffnung, dass sie etwas für einen guten Zweck tat. Klar. »Wir stehen mitten auf der Straße, Shep. Ich will dieses Gespräch hier nicht führen.«
»Ich will dieses Gespräch überhaupt nicht führen.« Knapp und harsch.
Sie hasste es, wenn sie solche Sackgassen erreichten. Sie würden Stunden brauchen, um wieder einen normalen Level zu erreichen, dachte sie, also war es wahrscheinlich ganz gut, dass sie jetzt erst einmal auseinandergingen. Sie deutete auf den Polizeiwagen, der die Straße entlangkam. »Da kommt dein Wagen.«
»Ich rufe dich später an.«
»Ich brauche Hilfe beim Fensterabdecken.«
»Ich weiß. Ich rufe dich an.«
»Äh, hey, wartet.« Annie eilte auf sie zu, ihr Gesicht rot vor Angst, Aufregung, beidem. »Seht mal.«
Sie hielt Mira und Sheppard den PDA hin, sodass sie gezwungen waren, dichter nebeneinander zu treten, um den kleinen Bildschirm zu betrachten. Und was Mira sah, war ein lebendiges, aber doch vollkommen fremdes Wesen mit einem perfekt geformten einzelnen Auge, das weniger als sechshundertfünfzig Kilometer vor der Südküste Floridas wirbelte. Laut der Angaben am unteren Ende des Bildschirms bewegte sich der Sturm zügig, erreichte Höchstgeschwindigkeiten von 220 Stundenkilometern und befand sich derzeit südwestlich der Keys. Eine rote Linie markierte die Küste, sie bezeichnete mögliche Bereiche, an denen der Sturm Land erreichen konnte, von Tango Key bis Palm Beach County im Norden. Eine Hurrikan-Warnung für diesen Küstenteil wurde für acht Uhr vormittags erwartet, in zehn Minuten.
Die Panik öffnete Miras innere Schleusen. Adrenalin ergoss sich in ihr Blut, ihre Muskeln zuckten und wollten fliehen oder kämpfen. Bei der Aussicht auf Winde, die stark genug waren, um Rinde von den Bäumen zu reißen, verblasste alles andere.
Augenblicklich stellte sie sich das Chaos auf der einzigen Straße von den Keys herunter vor, wenn dreißig- oder vierzigtausend Bewohner alle zugleich auf dem zweispurigen Asphaltband unterwegs waren, nur um sich drei- oder viermal so vielen Fahrern in Dade County anzuschließen, und weiteren Zigtausenden aus Broward County. Sie stellte sich vor, wie diese Millionen Menschen gleichzeitig auf der Flucht waren.
Es gab drei Hauptfluchtwege aus Südflorida nach Norden – die I -95, den Florida Turnpike und die I -75. Diese Straßen würden einen nach Georgia bringen, jedenfalls wenn man es schaffte, aus Monroe oder Dade County rauszukommen, dachte sie. Die übrigen Straßen, die US 1, der Dixie Highway und die A-1-A würden ebenfalls voller Autos sein, wenn Anwohner, die aus den tiefer gelegenen Strandgebieten evakuiert werden mussten, in die Notunterkünfte im Landesinneren fuhren.
Wahnsinn. Und in diesem Moment entschied sie zu bleiben. Sie würde in ihrem Haus bleiben, bei ihrer Familie und ihren Tieren, mit so vielen Büchern aus ihrem Laden, wie sie eben in den Lieferwagen und die Garage quetschen konnte. Sie würde ihr Haus und ihr Geschäft so gut wie möglich sichern und dann diesen Scheißsturm in einem Haus abwarten, das in den letzten vierzig Jahren schon anderen Hurrikans standgehalten hatte. Sie würde das tun, weil die Alternative – auf einer Autobahn festzustecken, während Winde von 220 Stundenkilometern oder mehr die Autos zu Staub verarbeiteten – undenkbar war.
Mira mühte sich, im Kopf nachzurechnen, war aber so erschöpft, dass ihr Hirn die Zusammenarbeit verweigerte. »Wie lange?«, murmelte sie. »Wie lange haben wir?«
Annie hatte es bereits überschlagen. »Bei der jetzigen Geschwindigkeit wird das Auge in etwa fünfzehn Stunden das Land erreichen. Aber der Sturm wird lange vorher wüten. Am äußeren Rand ist übles Wetter.«
»Hey, wollt ihr mitfahren?«, rief Dillard.
Mira dachte etwa fünf Sekunden darüber nach, dann lief sie auf den Wagen zu.
Fünfzehn Stunden.
Das hieß, dass sie jede Minute nutzen musste.
7
Der Wind weckte sie, zwei starke Böen, die das Fenster klappern ließen wie Geister in Ketten. Tia Lopez schreckte auf der Couch hoch, ihr Körper gewappnet gegen augenblicklichen Schrecken, die Augen auf das Fenster gerichtet. Tageslicht. Sie konnte nichts als Bäume sehen – Grün in Grün.
Sie schlug ihr schwarzes Baumwolllaken zurück und schwang die langen Beine über die Kante des Sofas. Ihre nackten Zehen krümmten
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