verwundet (German Edition)
französischen Regierung waren noch einige Zeit im Amt. Unglaublich! Warum kommen die großen Schurken immer davon? Kannst du mir das mal sagen?“
„Geld und Macht regieren die Welt.“
„Sieht so aus“, sagte Kai und versank in Gedanken. Harald sah wieder zu Angelika, die ihren Sohn nachdenklich betrachtete. Dieser sprang plötzlich auf und sagte. „Wollen wir die Platte zu Ende hören?“
„Wenn das unseren Gast nicht stört.“
Kai sah Harald an und sagte. „Wir haben vorhin begonnen, die Siebente von Beethoven zu hören. Magst du Klassik?“
„Ja, sehr.“
„Prima!“ Er ging zum Plattenspieler, schaltete ihn ein und setzte sich anschließend neben seine Mutter auf die Couch. Als die Sinfonie begann, schloss Harald, der auf dem Sessel gegenüber saß, die Augen. Die entspannte Atmosphäre begann auf ihn zu wirken, und er wurde langsam ruhiger. Er musste plötzlich daran denken, wie er mit Clärchen und seinen Eltern im Wohnzimmer gesessen und Musik gehört hatte. Sein Vater hatte voller Begeisterung dirigiert oder hatte an bestimmten Stellen gesagt: Und jetzt hört zu. Ist das nicht wunderbar? Clärchens Augen hatten den Vater angeleuchtet, denn sie hatte sich immer gefreut, wenn es ihn so mitgerissen hatte und wenn das eisige Grau seiner Augen plötzlich wärmer geworden war. Manchmal hatte sie ihn auch nur staunend mit ihren ernsten und großen Kinderaugen angesehen, und wenn sie neben ihm gesessen hatte, hatte sie ihre kleine Hand auf das Knie des Vaters gelegt. Manchmal hatte der Vater dann ihre Hand zwischen seine großen Hände genommen. Ich werde sentimental, dachte Harald und öffnete die Augen. Kai lag inzwischen mit angewinkelten Knien da und hatte seinen Kopf in Angelikas Schoß gelegt, die ihm sacht über die Stirn strich und durch seine Haare fuhr. Er hatte beide Hände auf ihre andere Hand gelegt, die auf seiner Brust lag, und Mutter und Sohn hatten beide ihre Augen geschlossen. Dieser Anblick verstärkte das heiße Brennen in Haralds Brust, und so schloss er lieber wieder die Augen. Der nächste Satz weckte eine andere Erinnerung. Er mochte etwa zehn gewesen sein, denn er hatte gerade die Schule gewechselt. Es war Nacht, und nachdem er auf der Toilette gewesen war, hatte er durch die Glastür des Wohnzimmers noch Licht gesehen. Vorsichtig hatte er sie geöffnet und den Vater erblickt, der ihn jedoch nicht wahrgenommen hatte, denn er hatte Kopfhörer aufgesetzt und hörte Musik. Unter seinen geschlossenen Lidern quollen Tränen hervor und tropften auf seine Hose. Stumm hatte Harald dem Weinen zugesehen und dabei erfasst, dass die Tränen dieses Mal nicht der Schönheit der Musik galten, und es hatte ihn gedrängt, zum Vater zu gehen und ihn zu umarmen. Doch schnell hatte er die Tür wieder geschlossen. Wehe, wenn ihn der Vater entdeckt hätte. Aber er hatte noch
„Ja. Okay. Komm gut heim.“
Kai nickte und umarmte Angelika. Für einen Moment standen die beiden eng umschlungen da, bevor Kai sie auf die Wange küsste und sie ihm mit ihrer Hand noch einmal zärtlich über den Schopf fuhr. Kai öffnete die Wohnungstür und lief die Treppe hinunter, während sie ihm hinterher winkte. Als sie die Tür wieder schloss, sagte Harald. „War ein ungünstiger Zeitpunkt, hier aufzukreuzen. Tut mir leid, wenn ich euch gestört habe.“
„Du hast uns nicht gestört, und Kai mochte dich auf Anhieb. Er ist zwar ein offener Mensch, aber so entspannt wie heute ist er normalerweise nicht bei Fremden, geschweige denn, dass er unser Ritual preisgibt.“ Sie ging wieder ins Wohnzimmer und warf einen Blick zurück. „Kommst du?“
Harald folgte ihr. „Was meinst du mit Ritual?“
Sie lächelte. „Auf diese Weise hören wir schon Musik, seit er ein kleiner Junge war.“
„Und Svenja?“
„Sie haben sich die Zeit auf meinem Schoß geschwisterlich geteilt.“ Sie setzte sich und sagte: „Möchtest du zu mir kommen?“
Er ging zu ihr und setzte sich neben sie.
„Tut mir leid, dass es gerade Beethoven war. Kai liebt ihn, und ich wollte ihm nicht erklären, dass er für dich eine besondere Bedeutung hat.“
Ihre Wahrnehmung war ihm manchmal unheimlich. „Er hat ja gefragt, und ich hätte Nein sagen können.“ Sie sah ihn aufmerksam an. „Ich bin noch in Stimmung für Musik. Möchtest du vielleicht etwas anderes hören?“
„Es ist wie verhext. Es ist, als ob mein verdammtes Gehirn jedes Erlebnis, das ich beim Anhören von Musik hatte, zu dem entsprechenden Stück abgespeichert
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