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verwundet (German Edition)

verwundet (German Edition)

Titel: verwundet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Kühn
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Es gibt Zeilen von Rachmaninow, in denen er beschrieb, wie er tagtäglich in dem Behandlungszimmer lag und immer die gleichen suggestiven Formeln hörte. Er begann, wieder zu komponieren und widmete dieses Klavierkonzert aus Dankbarkeit seinem Arzt. Zwischen der Uraufführung der Ersten Sinfonie und des Konzertes lagen immerhin vier Jahre.“
    „Lernt Ihr diese Geschichten während eueres Studiums?“
    Lächelnd sagte sie: „Nein, das ist meine ganz private Marotte. Wenn mich jemand berührt, sei es ein Schriftsteller, ein Maler oder eben ein Komponist, dann möchte ich immer gerne mehr über den Menschen, der hinter dem Werk steckt, wissen. Viele Künstler waren depressiv und unglücklich und suchten professionelle Hilfe. Mahler beispielsweise hat sich mit Freud mal in einem holländischen Seebad getroffen, weil er über eine Affäre seiner Frau ziemlich verzweifelt war. Sie haben einen Nachmittag zusammen verbracht, an dem Freud festzustellen glaubte, dass Mahler einen Marienkomplex hätte.“
    „Was ist das denn?“
    „Mahler, der vom Judentum zum Katholizismus übergetreten war, suche in jeder Frau sowohl das Idealbild der Jungfrau Maria als auch ein Abbild seiner eigenen Mutter, die Maria geheißen hat. Mahler soll sehr schockiert gewesen sein, weil der zweite Vorname seiner Frau ebenfalls Maria lautete und er sie laut seiner Aussage immer schon so hatte anreden wollen.“ Als er schwieg, fuhr sie fort: „Kunst entsteht sehr oft aus Wehmut, Melancholie oder Verzweiflung, und vielleicht spricht sie uns oftmals gerade deshalb so an.“ Sie erhob sich. „Aber jetzt ist mir nach etwas anderem zumute. Magst du Mozart?“
    Erfreut nickte er. Er sah ihr zu, wie sie zum Plattenspieler ging und die Platte vom Gerät nahm. Während sie sie in die Hülle zurücksteckte, sagte sie: „Vielleicht hast du Lust, ein paar Kerzen anzuzünden. Hinter dir im Regal stehen drei Stück, die du auf den Tisch stellen könntest.“
    Er stand auf, griff nach den orangefarbenen Kerzen, stellte sie auf den Tisch und zündete sie mit den Streichhölzern an, die dort lagen. Angelika war währenddessen zum Fenster gegangen und hatte die Vorhänge zugezogen. Nun ging sie wieder zum Schallplattenspieler, schaltete ihn ein und setzte sich dann wieder neben ihn.
    Schon nach wenigen Takten erkannte er die Pariser Sinfonie. Die fröhlichen Töne brachten ihn in eine völlig andere Stimmung. „Merkwürdig“, sagte er gedankenverloren, „diese Musik weckt keinerlei Erinnerungen.“ Nach einer ganzen Weile griff er nach ihrer Hand. „Musik ist wirklich ein Wunder.“ Begeisterung schwang in seiner Stimme mit. „Hör dir das bloß an? Ach! Ein Genie, dieser Mozart!“ Mit leuchtenden Augen sah er sie an, beugte sich zu ihr und küsste sie auf die Wange.
    „Danke! Du bist wunderbar!“
    Sie lächelte. „Du auch!“
    Er berührte ihre Lippen, zuckte aber sofort wieder zurück und sah sie unsicher an, doch sie legte eine Hand um seinen Nacken und küsste ihn. Ihr Kuss war zärtlich und kurz, und Harald, der fühlte, wie sich etwas in seiner Brust weitete, umarmte sie und zog sie mit seinem Gewicht herunter, so dass sie nun beide auf der Couch lagen. Er wollte nicht die Stimmung zerstören und gab seinem Wunsch, sie leidenschaftlicher zu küssen und zu berühren, nicht nach. Auch nachdem die Musik verklungen war, bewegte er sich nicht und genoss es, ihr so nahe zu sein. Entspannt und in harmonischer Stimmung, merkte er nicht, wie er wieder einschlief. Als er erwachte, waren die Kerzen schon ziemlich heruntergebrannt, und er konnte nicht erkennen, ob Angelika wach war oder schlief. Ihr Arm, der auf seiner Hüfte lag, war schwer und schlaff. Leise sagte er: „Ich liebe dich.“ Sie rührte sich nicht. Mit seinen Fingerspitzen ertastete er ihr Gesicht und streichelte über die weiche Haut ihrer Wangen und ihrer Lippen. Als sie sich bewegte, erschrak er, doch ihr Arm, der auf seiner Hüfte gelegen hatte, schlang sich um seine Taille. Ein warmes Gefühl durchströmte ihn, und er hätte jubilieren mögen, doch blieb er ruhig, um sie nicht zu stören, und nach einiger Zeit war auch er wieder eingeschlafen. Er wurde erst wieder wach, als sie ihre Stellung veränderte, um aufzustehen. Die Kerzen waren verloschen, aber es war nicht ganz dunkel, da der Vollmond sein Licht durch die feingesponnenen Vorhänge warf. Er hörte, wie sie ins Bad ging, nach kurzer Zeit die Toilettenspülung rauschen und anschließend das Wasser im Waschbecken plätschern. Als

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