verwundet (German Edition)
lehnte sich zurück, und nun war ihr Blick forschend. „Was meinen Sie mit Falle?“
„Liebe ist immer eine Falle!“ Die Wärme in ihren Augen verstärkte den Druck in seiner Kehle. „Liebe ist immer Verzweiflung“, krächzte er und rieb sich über das Gesicht, „ist Schmerz, ist Trostlosigkeit, Nichtgenügen, Ausgepresstwerden, Verlust … ist Erpressung.“ Als er ihren einfühlsamen Gesichtsausdruck wahrnahm, versuchte er, den Kloß in seinem Hals loszuwerden. Er schluckte mehrmals, bevor er mit belegter Stimme sagte. „Sehen Sie mich bitte nicht so an.“
„Wie sehe ich Sie denn an?“
Er schaute auf seine Hände, die verkrampft in seinem Schoß lagen, und schwieg. Schließlich räusperte er sich und sagte dann kaum hörbar: „So, als ob Sie mich mögen würden, aber das bilde ich mir sicher nur ein.“
„Nein, das bilden Sie sich nicht ein.“
„So wie ich mich in den letzten Wochen aufgeführt habe?“
„Ich bin hart im Nehmen.“
Als er das Lächeln in ihrer Stimme wahrnahm, hob er ruckartig den Kopf.
„Michel de Montaigne“, sagte sie nun zu seiner Verwirrung. Sie deutete mit ihren Fingern Anführungszeichen an und zitierte: „Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den anderen.“
Er hatte inzwischen die Augen geschlossen und lauschte dem angenehmen Klang ihrer Stimme. Es lag etwas Warmes und Weiches darin. Nein, das bilden Sie sich nicht ein , hatte sie gesagt.
„Glauben Sie, Sie müssen perfekt sein, um gemocht oder geliebt zu werden?“
Ihre Bemerkung ließ ihn zusammenzucken. Er hob die Lider und sah in das aufmerksame Blau ihrer Augen. Sie beugte sich in ihrem Sitz nach vorne. „Mit den Unterschieden in uns selbst, mit den Unterschieden zwischen dem, wie und wer wir gerne wären und dem, wie wir wirklich sind, gilt es sich anzufreunden. Hat man Freundschaft mit sich geschlossen, kann man daran gehen, gewisse Dinge zu verändern.“
Er heftete seinen Blick auf den Boden.
Nachdem einige Minuten verstrichen waren, fragte sie: „Warum ist Liebe für Sie Schmerz, Trostlosigkeit, Nichtgenügen, Ausgepresstwerden, Verlust, Erpressung?“
Er gab keine Antwort.
„Wer hat sie erpresst, Herr Wiebke?“ Anteilnahme schwang in ihrer Stimme mit und so drang diese Stimme in sein Inneres, ohne dass er dagegen ankam und brachte Erinnerungen mit sich, quälende Erinnerungen, die er am liebsten gleich wieder vergessen hätte. Er beugte sich nach vorne und stützte seinen Oberkörper mit den Ellbogen auf seinen Knien ab, den Kopf in seine Hände vergraben. So saß er eine Weile, bevor er begann, leise zu erzählen: „ Ich war etwa zehn Jahre alt und lag bei meiner Mutter im Bett. Ich hatte mich an sie angekuschelt. Sie hat mich gestreichelt und gesagt: „Du bist doch mein kleiner Mann, du wirst immer bei mir bleiben und mich beschützen, hörst du? Ein Junge hat immer gut für seine Mutter zu sorgen, für sie da zu sein. Für immer und ewig.“ Und dann stand plötzlich mein Vater vor uns. Wie aus dem Nichts tauchte er auf. Er war früher nach Hause gekommen, viel früher als erwartet. „Was machst du da?“ schrie er mich an und zerrte mich aus dem Bett. „Du Dreckschwein. Was hast du an deiner Mutter herumzufummeln?“ Er hat mich in unser Kinderzimmer geschleift, hat mich auf mein Bett geworfen und auf mich eingeprügelt. Meine Nase fing zu bluten an... Alles war voller Blut..., ich... ich habe geweint, doch er prügelte weiterhin auf mich ein. Er schlug rechts, links, rechts, links, rechts, links, immer ins Gesicht und brüllte: „Ich werde dich lehren, ein ganzer Mann zu werden, aber nicht im Bett deiner Mutter, du Früchtchen. Und hör auf, wie ein Waschweib zu weinen! Sonst muss dir deine Schwester noch ihre Kleidchen leihen.“ Clärchen, die verängstigt auf ihrem Bett saß, begann, zu schluchzen. Er herrschte sie an, sie solle aufhören zu heulen, sonst bekäme sie auch noch eine Tracht Prügel. Anschließend schlug er mir noch einmal ins Gesicht. „Und lass künftig deine Pfoten von deiner Mutter.“ Dann verließ er das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.“ Als Harald wieder hoch sah, erblickte er das erschütterte Gesicht von Frau Dr. Donner. Ihr offensichtliches Mitgefühl brachte seine letzten Schutzbarrieren zum Einsturz. Der Schmerz kam mit einer Intensität,
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