verwundet (German Edition)
wert, gelebt zu werden.“
Die Analytikerin schwieg einen Moment, bevor sie sagte: „Das sehe ich anders.“ Sie lächelte. „Sie haben einen wunderbaren Beruf. Sie sind intelligent und gebildet, und Ihre Bildung ist umso bewundernswerter, als Sie sie nicht zwangsläufig in der Schule, sondern aus eigenem Interesse und Antrieb erworben haben. Ihr Engagement für unsere Umwelt, für den Erhalt der bedrohten Tierwelt, ist ebenso schätzenswert wie Ihre Hartnäckigkeit, sich nicht vom Staat ernähren zu lassen, sondern immer unterschiedliche Arbeiten, gleich welcher Art, anzunehmen, um auf eigenen Beinen zu stehen und Ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Sie haben sehr vielseitige Interessen und Ideale, für die Sie auch bereit sind, einzustehen. Die liebevolle Art, mit der Sie mir über Ihre Arbeit mit den Tieren und auch über Clärchen und Lisa berichtet haben, offenbart eine tiefe Empfindungsfähigkeit, die Fähigkeit zu Hingabe und Mitgefühl für schwächere Lebewesen und eine große Sensibilität.“ Sie hielt kurz inne. „Am Anfang der Therapie hat es mich schon ein wenig gewundert, dass meine Kollegin, ich meine, dass Ihre Angelika so lange Geduld mit Ihnen hatte. Inzwischen kann ich das aber nachvollziehen, denn Sie sind ein sehr interessanter Mann.“ Harald traute seinen Ohren nicht. Er erinnerte sich, dass Angelika sich schon ähnlich geäußert hatte. Frau Donners Worte waren Balsam für ihn, aber sie war noch nicht fertig, und als sie jetzt weiter sprach, lehnte sie sich nach vorn und ihr Gesicht war ernst: „Aber Sie sind auch aggressiv, feindselig, anmaßend, und Sie können sehr verletzend sein, weil Sie meist im Affekt handeln, ohne sich vorher zu überlegen, woher Ihre Wut und Ihre ungezügelten Gefühle stammen. Unsere Aufgabe in der Therapie wird es sein, dass Sie lernen, Ihre Gefühle fließen zu lassen, sie zu reflektieren und damit auch zu verstehen. Wir müssen versuchen, einige Ihrer Verletzungen zu heilen, und das geht nur, wenn Sie Ihre Kindheit, die für mich wirklich ein einziges Trauerspiel ist, verarbeiten. Sie müssen lernen, zu trauern. Sie müssen lernen, das kleine, verletzte, stets abgewiesene, emotional erpresste und auch gedemütigte Kind in Ihnen, das immer noch um Liebe und Anerkennung ringt, anzunehmen und gemeinsam mit ihm zu weinen. Ungeweinte Tränen verschwinden nicht, Herr Wiebke. Die Wunden, die Schmerzen, die Trauer oder auch die Wut, die Sie als Kind verdrängt haben, um seelisch zu überleben, müssen zugelassen und eingestanden werden. Erst dann werden Sie fähig sein, wirklich zu lieben und nicht nur Wünsche und Sehnsüchte auf andere Menschen zu projizieren. Sie werden feststellen, dass zur Liebe sehr viel mehr gehört als die körperliche Vereinigung, die, und daran halte ich fest, neben der Triebbefriedigung gerade auch für Sie ein Mittel zur Schaffung von seelischer Nähe ist. Sie müssen ver lernen, was Ihre Eltern, und in dem Fall besonders auch Ihre Mutter, Ihnen beigebracht haben, nämlich, dass Liebe immer Schmerz, Trostlosigkeit, Nichtgenügen, Ausgepresstwerden, Verlust und Erpressung ist. Solange das nicht geschehen ist, geraten Sie immer wieder in die Gefahr, auf Ihre Partnerin alte Sichtweisen zu projizieren und ihr damit Einstellungen zu unterstellen, die sie gar nicht hat. Sie müssen außerdem lernen, sich ihr zu öffnen. Das hat nichts mit Preisgabe zu tun, und es heißt auch nicht, dass sie sich psychisch ausziehen müssen. Aber wer sich für Sie interessiert und sich in Sie verliebt, möchte mehr als Arbeitsberichte und Sex erhalten. Die Gefühle schaffen Nähe, nicht nur der Körper. Auch müssen Sie lernen, die Gefühle anderer Menschen besser wahrzunehmen und behutsamer mit ihnen umzugehen. Vermutlich war es das, was Angelika damit meinte, als sie Ihnen sagte, Sie sollten erwachsen werden.“
Harald war bei ihren Worten immer mehr in seinem Stuhl zusammengesunken und hatte instinktiv den Kopf eingezogen.
Frau Dr. Donner lehnte sich zurück, und ihr Lächeln kehrte wieder. „Sie sind nicht allein, Herr Wiebke, denn ich werde Ihnen helfen. Wir werden das gemeinsam schaffen. Sie werden noch oft Grund haben, mich zu verfluchen und wütend auf mich zu sein. Aber denken Sie immer daran: Die Arbeit lohnt sich. Sie und Ihr Leben sind es wert.“
***
N eun Wochen später saß Harald im Zug nach Marburg. Er hatte von Katja, mit der er in losem Briefkontakt stand, einen Brief erhalten, dem auch ein paar Zeilen von Kai beigelegt gewesen waren. Er
Weitere Kostenlose Bücher