verwundet (German Edition)
die seine Brust zu sprengen schien und ihm fast die Luft zum Atmen nahm. Die Tränen stürzten sintflutartig hervor ohne, dass er irgendetwas dagegen tun konnte. Er wurde regelrecht geschüttelt, er krümmte sich auf seinem Stuhl zusammen, und es dauerte eine ganze Weile, bis er sich beruhigt hatte. Irgendwann hörte er wie durch eine Nebelwand die behutsame Stimme von Frau Dr. Donner: „Wo befand sich Ihre Mutter in diesem Augenblick?“
„Ich weiß es nicht. Jedenfalls nicht bei mir.“ Es kostete ihn Mühe, seine Worte zu formulieren. „So war es oft. So war es eigentlich immer! Wenn sie mit ihm Streit hatte und wenn er nicht zu Hause war, hat sie mich in ihr Bett geholt. Sie hat sich bei mir beklagt, wie rücksichtslos, egoistisch und hartherzig er sei, dass sie mich viel lieber hätte, und dass es schön wäre, wenn sie und ich alleine zusammen leben würden. War aber alles in Ordnung zwischen ihr und ihm, war sie mir gegenüber wieder gleichgültig. Ich habe dann immer versucht, ihre Aufmerksamkeit wieder zu gewinnen, und wenn mir das einmal gelang und sie lächelte oder mir über den Kopf streichelte, nannte mich mein Vater einen Pharisäer, einen Heuchler oder ein Muttersöhnchen und warnte mich, meine Griffel bei mir zu behalten.“
„Im Beisein Ihrer Mutter?“
„Eigentlich immer, wenn sie im Zimmer war.“
„Wie hat Ihre Mutter reagiert?“
„Gar nicht.“
„Sie hat Sie nicht verteidigt?“
„Nein! Niemals!“
„Sie konnten sich also ihrer Liebe nie sicher sein“, stellte die Analytikerin nickend fest.
Er wischte sich über die Augen. „Sie hat mich immer verraten! Immer! Mich und auch Clärchen.“
Beide schwiegen eine Weile. Er lehnte sich wieder zurück, sah auf seine Hände, die nun entspannter auf seinen Oberschenkeln ruhten.
„Ist es Ihnen nie in den Sinn gekommen, Herr Wiebke, dass Ihre Schwierigkeiten mit Frauen mit Ihrer Mutter zusammenhängen könnten?“
Fragend sah er sie an.
„Wenn Sie als Kind gelernt haben, dass Liebe etwas Unbeständiges ist, wieso sollten Sie dann jetzt glauben, dass Liebe überhaupt etwas Dauerhaftes sein kann? Ihr Gefühl, sich in der Falle zu befinden, stammt daher, dass Ihre Mutter Ihnen nur Liebe gab, wenn es für sie richtig war, wenn sie Ihren Beistand brauchte, wenn sie jemanden suchte, der ihr das geben sollte, was sie von ihrem eigenen Ehemann nicht bekommen konnte, und dass Sie selbst dabei eigentlich unwichtig waren. Sie waren eben gerade greifbar. Als Kind hätten Sie das vielleicht nicht bewusst ausdrücken können, aber Kinder haben feine Antennen dafür. Vermutlich hat sich damals in Ihnen festgesetzt, dass Sie es gar nicht wert sind, geliebt zu werden, denn die von Ihnen verehrte und geliebte Mutter liebte Sie ja ganz offensichtlich nicht.
Er nickte traurig. „ Wenn ich mit ihr im Bett lag, hat sie mich gestreichelt. Wenn ich aber von mir aus kam, hat sie mich richtig brüsk abgewehrt und gesagt: „Lass das jetzt! Manchmal hat sie mich sogar richtiggehend weggestoßen .“ Frau Dr. Donner nickte. „Wenn sie etwas von Ihnen wollte, Ihren Trost, Ihre Zuneigung, hat sie sie von Ihnen eingefordert. Wenn Sie hingegen das Bedürfnis nach Zärtlichkeit hatten, hat sie Sie abgewiesen. Das heißt, Sie mussten sich Liebe erst verdienen, mussten eine Gegenleistung bringen, mussten immer einen Preis dafür bezahlen. Gleichzeitig wurden Ihre Gefühle von Ihrem Vater in den Schmutz gezogen, in dem er Sie der Unehrlichkeit und unlauterer Gedanken bezichtigte, und dann wurden Sie auch noch für Ihr Bedürfnis nach Liebe und Zärtlichkeit bestraft und gedemütigt. Sie saßen also gleich doppelt in der Falle!“
Harald starrte sie an. Es war, als hätte sich in seinem Inneren ein dicker Knoten aufgelöst. Der Druck war gewichen, und das Atmen fiel ihm leichter.
Mit einem Ton des Bedauerns sagte sie: „Leider ist unsere Zeit schon überschritten, Herr Wiebke. Gleich kommt der nächste Patient.“
Wie in Trance erhob er sich.
Sie stand ebenfalls auf, reichte ihm die Hand und sagte: „Kommen Sie gut nach Hause. Wir sehen uns morgen.“ Harald fühlte ihre Besorgnis und hätte sie dafür am liebsten umarmt. „Danke“, murmelte er und verließ sie.
Als er am nächsten Abend ihr Zimmer betrat, begrüßte sie ihn mit einem herzlichen Lächeln. „Hallo Herr Wiebke. Wie fühlen Sie sich heute?“
Er setzte sich. „Nicht besonders.“
Frau Dr. Donner nickte ihm aufmunternd zu.
„Mein ganzes Leben ist ein einziger Misthaufen, ist nicht
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