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verwundet (German Edition)

verwundet (German Edition)

Titel: verwundet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Kühn
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mehr kennengelernt, sie war schon geschieden. Sie machte ein paar Mal Andeutungen, aus denen ich entnehmen konnte, dass da viel Gewalt, auch gegen das Kind, im Spiel war. Als ich Lisa zum ersten Mal begegnete, fiel mir auf, wie schreckhaft sie war. Sie war sehr scheu. Erst vor einiger Zeit hat sie sich diese schnodderige Art angewöhnt. Ich komme nicht an sie heran.“
    „Ich kann Ihre Sorgen durchaus verstehen. Nur können Sie die Kindheit nicht wieder gutmachen.“
    „Kann man da wirklich nichts machen? Ich meine, ich habe doch versucht, Lisa ein schönes Zuhause und Geborgenheit zu geben.“
    „Ja, nur sie ist doch keine zehn mehr. Mit zwanzig ist man zwar irgendwie noch veränderbar, aber doch schon erwachsen und im Grunde genommen geprägt.“ Lydia schüttelte den Kopf: „Ich kann das nicht glauben.“
    „Vielleicht wollen Sie es nicht glauben?“
    „Ja, vielleicht.“
    Ihre Gläser waren leer, und der Kellner trat an den Tisch, ob sie noch etwas bestellen wollten. Lydia sah auf die Uhr und schüttelte den Kopf. Harald verlangte nach der Rechnung. Die Zeit war viel zu schnell vergangen. Gerade jetzt, wo sie sich so gut unterhielten, wollte sie gehen. „Ich habe die Monetdrucke in Ihrem Wohnzimmer gesehen. Interessieren Sie sich allgemein für Malerei oder nur für Monet?“
    „Allgemein. Diese Bilder habe ich von meinem geschiedenen Mann geschenkt bekommen.“
    „Im Stadtmuseum läuft ab übermorgen eine Ausstellung über Kandinsky und zwar nicht nur über die Blaue-Reiter-Phase, sondern vor allem auch über seine früheren Bilder. Vielleicht haben Sie ja Lust hinzugehen?“
    Sie sah ihn nachdenklich an, erwiderte aber nichts. Der Kellner kam viel zu schnell, und er bezahlte. Danach half er Lydia in den Mantel, und sie verließen das Lokal. Während des Heimweges suchte er angestrengt nach einem neuen Gesprächsanfang und vor allem nach einem Grund, sie wieder zu sehen. Er geleitete sie bis zur Wohnungstür. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte sich um: „Vielen Dank für die Einladung. Es war ein interessanter Abend.“
    Er beugte sich über sie, um sie zu küssen, da sagte sie: „Bitte nicht.“
    Ihr Mund schwebte vor ihm, es kostete ihn viel Kraft, sie nicht zu küssen. Er schloss die Augen und wandte sich ab. „Verzeihen Sie.“ Im Weggehen hörte er, wie sie die Wohnungstür schloss.
    *
    Als Harald am nächsten Tag erwachte, galt sein erster Gedanke Lydia. Ihr bitte nicht gellte ihm noch in den Ohren. Stöhnend hielt er sich den gemarterten Schädel. Wieder und wieder hatte er den Abend vor seinem inneren Auge vorbeiziehen lassen und dabei Unmengen von Bier in sich hinein gekippt. Er hatte sich hoffnungslos blamiert. Im Allgemeinen kam er bei dem weiblichen Geschlecht gut an. Wenn es nicht um Gefühle, sondern um rein erotische Geschichten ging, war er locker, witzig, und es gelang ihm mühelos, Frauen in sein Bett zu bekommen. Lydias Aussehen war nicht der alleinige Grund für ihre Anziehungskraft. Irgendetwas an ihrer Art faszinierte ihn. War es ihre Ruhe, diese Würde, die sie ausstrahlte, ihre positive Grundeinstellung? Er selbst war unruhig, nervös, launisch. Er dachte an seinen Vater. In ihm mochte es genauso ausgesehen haben, auch wenn er ständig um soldatische Haltung bemüht war. Ehre, Würde, Rang waren ihm außerordentlich wichtig, nach außen hin war er eine untadelige Gestalt. Keiner hatte geahnt, dass es in ihm ganz anders ausgesehen hatte. Zu Hause hatte er den Despoten rausgelassen. Die ganze Familie hatte seine Wut gefürchtet. Diese Anfälle von jäh aufflammendem Zorn hatte Harald leider von ihm geerbt, und so hatte er mit sechzehn gehen müssen, bevor sie sich gegenseitig umbrachten. Er hatte immer schon älter ausgesehen, so dass er keine Schwierigkeiten hatte, in fremden Ländern unterzutauchen. Mit Gelegenheitsjobs aller Art hatte er sich seinen Lebensunterhalt verdient. Erst mit achtzehn Jahren war er zurückgekehrt. Seine Schwester und seine Mutter hatten ihn gezogen, für seinen Vater hatte er nur Hass und Verachtung empfunden. Aber als Harald nach Hause gekommen war, hatte ihn ein gewaltiger Tiefschlag erwartet. Seine kleine Schwester hatte sich ein halbes Jahr vor seiner Rückkehr vor einen Zug geworfen. Sie hatte allgemein als fröhliches Mädchen gegolten und nur Harald hatte gewusst, wie es wirklich in ihr ausgesehen hatte. Depressiv, voller Selbstzweifel, Unruhe und Selbstverachtung war sie gewesen. Erschwerend war die Tatsache hinzugekommen, dass

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