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verwundet (German Edition)

verwundet (German Edition)

Titel: verwundet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Kühn
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sie eine verkrüppelte Hand gehabt hatte, die, als sie noch ein Embryo im Mutterleib war, von der Nabelschnur umwickelt gewesen und deren Wuchs so vermindert worden war. Ihre linke Hand war eigentlich nur ein kleiner Stumpf, untauglich für jedwede Benutzung. Sie hatte sehr darunter gelitten. Oft hatte sie erzählt, wie sie von den anderen Kindern deswegen gehänselt, verspottet, gar beschimpft worden war. Der einzige Kommentar ihres Vaters war, dass sie zu dem Spötter sagen solle, was er denn für ein hässlicher Eierkopf sei. Harald schüttelte bei dieser Erinnerung den Kopf. Als wenn ihr das geholfen hätte. Er sah ihr Gesicht vor sich, als ihr Vater ihr verkündet hatte, dass er sie aus dem Chor nehmen würde. Leichenblass war sie geworden. Sie hatte nicht einmal geweint. Von jenem Tag an waren ihre leuchtenden Augen stumpf gewesen, und kein Lächeln war mehr über ihr Gesicht geglitten. Wenn der Vater Musik gehört hatte, war sie aus dem Zimmer gegangen. Einmal hatte Harald sie sogar ertappt, wie sie sich in ihrem Zimmer die Ohren zugehalten hatte, um auch nicht den leisesten Ton zu hören. Erst viel später hatte Harald begriffen, dass ihr Vater ihr damit auch noch die letzte Möglichkeit, mit ihrem Schmerz fertigzuwerden, genommen hatte. Außerdem war sie im Chor anerkannt gewesen. Sie war oft für Soloauftritte oder als Vorsängerin engagiert worden, hatte dort Freunde besessen. Harald konnte sich nicht erinnern, dass seine Eltern oder er jemals bei einem ihrer Auftritte im Konzertsaal gewesen waren, obwohl das nur zehn Minuten Fußweg bedeutet hätte. Mit der Entscheidung, sie gegen ihren Willen aus der Singschule zu nehmen, hatte ihr Vater ihr das Herz gebrochen. Was war damals nur in ihn gefahren? Er, der Musik so liebte, hatte sie seinem Kind verwehrt. Er boxte ins Kissen und stellte sich vor, dass es sein Vater wäre. Er hätte gute Lust, nach Darmstadt zu fahren und seinen Vater windelweich zu prügeln. Die heftigen Bewegungen taten ihm nicht gut, sein Schädel schien zu platzen. Grimmig ging er zum Kühlschrank und holte sich eine Flasche Bier.
    *

***
    H arald hätte gerne eine geraucht. Aber im Moment hatte sein Kollege Pause, und so musste er sich noch gedulden. Er war heute im Ausstellungsraum D eingeteilt. Seit zwei Wochen arbeitete er jetzt im Stadtmuseum. Die Arbeit war okay, und er konnte länger schlafen. Die Kollegen waren größtenteils in Ordnung. Die Kandinsky-Ausstellung gefiel ihm. Es waren traumhafte Bilder dabei, russische Märchenmotive oder Landschaften, alles in den berühmten kräftigen Kandinsky-Farben. Das Ankündigungsplakat Wolgalied hatte er sich gleich gekauft und in sein Wohnzimmer gehängt. Für einen Sonntag waren nicht viele Leute da, aber das störte ihn nicht. So konnte er einen besseren Überblick behalten. Bei dem herrlichen Wetter zog es viele Leute in die freie Natur. Unversehens durchzuckte es ihn. Lydia hatte den Saal betreten. Er rieb sich über die Augen, ob er vielleicht träume. Aber es war wirklich Lydia. Noch hatte sie ihn nicht entdeckt. Sie stand versonnen vor einem russischen Märchenmotiv, dessen Namen er nicht kannte. Ihm fiel auf, dass sie wieder eine kräftig leuchtende royalblaue Bluse trug. Kein Wunder, dass sie Kandinsky mochte. Er konnte die Augen nicht von ihr lassen. Jemand hätte ein Bild von der Wand nehmen und es hinaus tragen können, und er hätte es nicht gesehen. Lydia ließ sich Zeit. Bei manchen Bildern trat sie ein paar Meter zurück, um einen besseren Eindruck zu gewinnen, an andere trat sie ganz nahe heran, um irgendwelche Details zu studieren. Harald brauchte jetzt eine Zigarette. Gerade, als er sich eine anstecken wollte, fiel ihm mit Schrecken ein, wo er sich befand. Um Himmels Willen, wenn jetzt die Rauchmelder angegangen wären! Schnell steckte er die Zigarette wieder in die Tasche seines Hemdes. Schließlich entdeckte sie ihn und kam auf ihn zu. Er war erleichtert, sie lächeln zu sehen. Als sie bei ihm angelangt war, streckte sie ihm die Hand hin. „Hallo, Herr Wiebke, da sind Sie ja. Ich bin ganz begeistert von der Ausstellung. Es sind ja wirklich Bilder dabei, die man ganz selten sieht. Ich habe zu Hause einen Bildband über den Blauen Reiter , aber dort sind kaum Frühwerke von Kandinsky enthalten. Sie gefallen mir doch wesentlich besser als die späteren. Aber ich gerate ins Schwärmen. Wie gefällt Ihnen die Arbeit hier?“
    „Äh, bitte was? Ja, ja, die Ausstellung ist wirklich sehr schön.“
    Ein irritierter Blick

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