verwundet (German Edition)
Marburg.“
„Wie alt sind sie?“
„Zwanzig, es sind Zwillinge.“
„Aha. Praktisch veranlagt, wie?“
„Wie bitte?“
„Na, einmal der Doppelpack, und Sie haben gleich alles auf einmal erledigt. Und dann schon so früh.“
„Wollen Sie auf diese Art mein Alter herauskriegen?“
„Zahlen sind irrelevant für mich.“
„Was ist denn relevant für Sie?“
„Charme und Ausstrahlung.“
„Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?“
„Ich bin Zootierpfleger und Sie?“
„Ärztin.“
„Sie arbeiten also in der Klinik?“ Als sie nickte, sagte er: „Furchtbar.“
Sie warf ihm einen fragenden Blick zu, und so sagte er schnell. „Ich meine, in solch einem riesigen Klotz zu arbeiten.“
„Man gewöhnt sich daran. Was hatten Sie dort zu tun?“
„Einen Krankenbesuch. Mein Freund war aber schon entlassen“, log er und dachte bei sich: Ausgerechnet Ärztin! Erinnerungen an Lisa, an meinen Vater, an Tod und Verfall. Er beschloss, das Thema zu wechseln. „Wie weit sind Sie mit dem Buch über Grosz?“
Sie parkte fast vor dem mexikanischen Restaurant. „Ich habe gerade erst angefangen.“
Als sie schließlich im Lokal saßen und bestellt hatten, fragte sie: „Haben Sie sich schon näher mit Grosz beschäftigt?“
„Ich habe vor ungefähr zehn Jahren schon mal eine Ausstellung über ihn besucht, und damals haben mich seine Bilder so angesprochen, dass ich angefangen habe, mich näher mit ihm zu befassen.“
„Was hat Sie so angesprochen?“
„Seine Auseinandersetzung mit den sozialen Gegensätzen, seine Kritik an den herrschenden Zuständen der Weimarer Republik, an der Wirtschaft, an der Politik, am Klerus und wie schon gesagt, am Militär. Er hat seinen Namen von Georg Gross in George Grosz geändert, weil er als strikter Kriegsgegner keinen deutschen Namen mehr tragen wollte. Außerdem ist er der Kommunistischen Partei beigetreten, hat sie jedoch drei Jahre später wieder verlassen, nachdem er Lenin und Trotzki in der Sowjetunion kennengelernt hatte. Er hat wohl jede Form der Diktatur abgelehnt. Seine Einstellung hat mir gefallen, auch die, die das Künstlertum betraf. Er war der Meinung, dass Künstler die Aufgabe hätten, sich am Kampf für die Freiheit zu beteiligen.“
„Was hat er während des Ersten Weltkrieges gemacht?“
„Wenn ich Ihnen jetzt schon alles erzähle, langweilt Sie womöglich Ihr Buch.“
Lächelnd erwiderte sie. „Ich habe keinen Mangel an Lesestoff. Erzählen Sie ruhig.“
„Wenn ich mich recht entsinne, hat er sich bei Ausbruch des Krieges als Freiwilliger bei einem Grenadier-Regiment in Berlin gemeldet und ist 1915 nach einer Operation wegen Stirnhöhlenvereiterung als dienstuntauglich entlassen worden. Ich glaube, 1917 wurde er dann als Landsturmpflichtiger wieder eingezogen und nach Aufenthalten in einem Lazarett für Schwerverletzte und in einer Nervenheilanstalt als dauerhaft kriegsunbrauchbar entlassen. Nicht so krass wie bei Oskar-Maria Graf, aber doch ähnlich.“
Der Ober brachte den Wein. Nachdem er gegangen war, fragte Angelika: „Wie war das bei Graf?“
„Er hat einen Irren gemimt und wurde in die Psychiatrie eingeliefert.“
„Das war aber mutig, wenn man sich die damaligen Zustände dort vorstellt.“
„Ja, eben. Aber es hat funktioniert. Er wurde entlassen und von der Militärpflicht befreit. Als Jugendlicher hat mir das schwer imponiert.“
„Wusste Ihr Vater das?“
Harald schüttelte den Kopf. „Ich habe ihm einmal zum Geburtstag Das Leben meiner Mutter geschenkt. Ich weiß allerdings nicht, ob er es je gelesen hat. Was mich noch an Graf begeistert hat, war sein Zeitungsaufruf Verbrennt mich .“
Als Angelika ihn fragend ansah, fuhr er fort. „Er war in Wien, als er erfahren hat, dass die Nazis seine Wohnung in München durchsucht und alles beschlagnahmt hatten. Eigentlich sollten seine Bücher wohl auch verbrannt werden. Dann aber hieß es, sie würden ihn als Autor und seine Heimatromane als Blut- und Bodenliteratur anerkennen, wenn er sich dafür von den politischautobiographischen Schriften lossagen würde. Daraufhin veröffentlichte er diesen Aufruf in einer Wiener Arbeiterzeitung mit der Begründung, er sei ein sozialistischer Geist und er würde es als Schande betrachten, wenn er nicht zusammen mit den anderen guten Geistern der deutschen Literatur verbrannt werden würde. Er wurde 1933 exiliert, ging in die Tschechoslowakei, und als die Deutschen dort einfielen, 1938 in die Staaten und fristete ein armes Dasein
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