verwundet (German Edition)
wie vor keinen Zugang zu Lisa fand, und langsam gingen ihr die Ideen aus. Lisa hatte sich in ihrer Innenwelt verbarrikadiert, obwohl auch diese offenbar keinen Frieden bot. Auch von ihren Kollegen war bis jetzt niemand zu dem Mädchen vorgedrungen. Lisa sah alle immer nur mit ihren ängstlichen Augen an und zuckte bei jeder Bewegung der Ärzte zusammen. Es war Frau Dr. Dunkelmanns Idee gewesen, Lisa in das Zimmer von Maria Kesten zu legen. Sie hatte gehofft, dass die warmherzige Frau vielleicht das Eis brechen könne. Sie hatte Frau Kesten gefragt, ob es ihr etwas ausmachen würde, Lisa ein bisschen zu umsorgen. Sie hatte angenommen, dass es für beide ein Gewinn sein könnte, das Zimmer miteinander zu teilen. Frau Kesten war ein sehr mütterlicher Typ, hatte eine Ader, die sie bei Lisa ausleben konnte, und vielleicht würde Lisa ja auftauen. Aber sie reagierte auf nichts. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte sie Schwierigkeiten, zu einem Patienten vorzudringen. Lisa war wie eine Wand, an der alles abprallte. Die Psychiaterin rief sich ihr Gespräch mit Frau Kaufmann ins Gedächtnis. Sie hatte gemerkt, wie schwer es dieser gefallen war, über die Vorkommnisse mit Lisa zu sprechen. Sie schien ein sehr zurückhaltender Mensch zu sein, und die Ärztin fragte sich, ob ein erneutes Gespräch mit ihr einen Sinn hätte. Frau Kaufmann hatte wenig über ihren Lebensgefährten erzählt. Was wohl zwischen den Dreien vorgefallen war? Warum war Lisa nach vier Monaten zu Lydia zurückgekehrt, und fast gleichzeitig war die Beziehung zwischen Lydia und ihrem Freund in die Brüche gegangen, den sie ja überhaupt erst über Lisa kennengelernt hatte. Frau Kaufmann war auf die Frage, ob die Trennung etwas mit Lisa zu tun hätte, ausgewichen, und das hatte die Ärztin stutzig gemacht. Sie war sogar sicher, dass sie geschwindelt hatte. Sie hätte zu gerne gewusst, wieso der Mann zu Lisa Kontakt gehabt, in den gleichen Kreisen, wie Frau Kaufmann es ausgedrückt hatte, verkehrt hatte, während sie selbst keine Verbindung mehr zu Lisa gehabt hatte. Und warum meldete sich dieser Mann nicht? Das musste doch einen Grund haben. Sie würde sich wohl selbst um eine Kontaktaufnahme bemühen müssen. Doch dazu brauchte sie den Namen und die Telefonnummer dieses Lebensgefährten. Sie sah auf die Uhr und griff zum Telefonhörer. Bei der Buchhandlung meldete sich eine Angestellte, die ihr mitteilte, dass Frau Kaufmann heute nicht mehr im Laden sei. Also versuchte die Ärztin es bei der Privatnummer, es hob jedoch niemand ab.
*
Harald hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte, um Lisa zu helfen. Lydia hatte den Ärzten doch bestimmt alles erzählt. Viel mehr wusste er auch nicht. Nach einer Woche trieb ihn dann sein schlechtes Gewissen doch zum Marienkrankenhaus. Als er dort ankam, sah er, dass die Klinik ein riesiger Neubauklotz war. Am Eingang drehte er wieder um. Er brachte es nicht über sich. Zwei Tage später nahm er einen erneuten Anlauf. Wieder kehrte er um. Die nächsten zwei Tage verbrachte er mit Arbeitssuche, denn er hatte keine finanziellen Reserven mehr. Er nahm wieder zwei Stellen an. Der Tankstellenbesitzer und der Zeitungsverlag nahmen ihn gerne wieder, denn er war immer zuverlässig gewesen. Nach drei Tagen Arbeit hatte er wieder seinen Rhythmus gefunden, und das tat ihm sehr gut. Die tägliche Routine war für ihn wie ein Korsett, das sein Leben auf einigermaßen stabilen Bahnen hielt. Er versuchte eine Weile kein Bier zu trinken, sich vernünftig zu ernähren und wenig zu rauchen. Er wollte seinen Körper etwas entgiften. Er trainierte täglich mit dem Trimmsack und begann, im Park Runden zu drehen, um wieder in Form zu kommen. Nach einiger Zeit bemerkte er, dass es ihm körperlich und psychisch besser ging. Allerdings musste er endlich die Angelegenheit mit Lisa hinter sich bringen. Heute war Freitag, aber für eine Psychiatrie spielte das wahrscheinlich keine Rolle. Mit mulmigem Gefühl machte er sich auf den Weg. Im Krankenhaus angelangt, fragte er den Pförtner nach der Psychiatrie. Er hatte keine Lust, lange herumzuirren. Der Pförtner war mufflig. „Geschlossene oder Offene?“
„Wie bitte?“
„Geschlossene oder Offene?“
„Ich habe Sie akustisch durchaus verstanden. Was ist...?“
„Stationsnummer?“
„Keine Ahnung.“
Wie ist der Name des Patienten?“
„Lisa Stralsund.“
Der Pförtner sah nach. „Geschlossene Abteilung, fünfter Stock linker Aufgang, Station 43.“
Er nahm den Fahrstuhl. Im
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