Verzauberte Herzen
liegende Galerie. An deren Ende lag
eine lange Steintreppe. Gwendolyn lief hinab, immer noch im Zweifel, ob sie
träumte. Im Traum waren ihre Schritte nicht schwerfällig. Behände glitt sie
über die Stufen, gefolgt vom Rüschensaum ihres Nachtgewandes. Als sie in der
Eingangshalle angelangt war, umspielte duftende Regenluft ihre Haut. Die
zerspaltete Tür zum Burghof war halb ausgehängt, eine Einladung, die Gwendolyn
nicht ablehnen konnte.
Sie
versuchte sich das freudige Gesicht ihres Vaters vorzustellen, wenn sie ihm um
den Hals fiel. Unfähig, sich an seine lieben, vertrauten Züge zu erinnern,
zögerte sie. Und wenn er sie gar nicht vermisst hatte?, dachte sie bedrückt.
Als der Drache sie gefangen setzte, hielt sie die Umnachtung ihres Vaters noch
für einen Segen. Aber jetzt? Was, wenn Papa ihr einfach nur die Hand drückte,
sie ein »gutes Mädchen« nannte und ins Bett schickte? Dann blieb ihr nichts
übrig, als mit einem von Reverend Throckmortons Pamphleten unter die Bettdecke
zu schlüpfen, sich um Kitty Sorgen zu machen oder zu warten, dass Nessa aus den
Armen ihres neuesten Liebhabers heimkam.
Gwendolyn
drehte sich langsam um. Der Bogengang im großen Saal bat sie herein wie in
ihrem Traum. Gefesselt und verängstigt zugleich setzte sie einen Fuß vor den
anderen. Ihr Puls raste.
Der große
Saal war das Herz von Weyrcraig Castle, das durch die Attacke Cumberlands
gebrochen war. Eine Kanonenkugel
hatte ein gewaltiges Stück des Dachs eingerissen.
Man konnte
Wolkenfetzen darüber ziehen sehen. Der Regen hatte fast aufgehört. Der Mond
lugte durch die Wolkenschleier,
als wolle er sich vergewissern, dass das Gewitter tatsächlich
vorüber war und er gefahrlos herauskommen konnte. Die Banner des Clans hingen
in Fetzen von den massiven Querbalken,
die nicht zerborsten waren. Die scharlachroten Drachen tanzten auf schwarzem
Grund. Sie waren zum Rot getrockneten Blutes verblasst. Ein mächtiger Kamin mit
einem geschnitzten Sims thronte am Ende des Saals. Er war von Spinnweben
überzogen.
Gwendolyn
schwebte in die Halle. Sie fühlte sich wie eines der Gespenster, die hier
wohnen mussten. Fast konnte sie den
Widerhall ihres Gelächters hören, ihre Trinklieder, wie sie die Kelche erhoben
und auf die einstige Macht und Würde des MacCullough-Clans einen Toast
ausbrachten.
Sie
schüttelte die Fantasie ab. Es waren nicht die Geister gefallener Krieger, die
hier spukten. Hier wehte der Geist einer Frau,
die ihre Kraft darauf verwandt hatte, aus diesem zugigen Saal ein Heim zu
machen. Gwendolyn erinnerte sich an
MacCulloughs Frau. Sie war eine gestandene, gutmütige Frau, die gerne lachte
und ihren einzigen Sohn innig liebte.
Ihre weiblich sanfte Hand war überall zu spüren. Ein reich
verziertes Sofa stand unter einem zersprungenen Spiegel. Die Baumwollfüllung
quoll aus abgewetzten Seidenkissen.
Anstelle düsterer Wandteppiche hatte sie die Wände mit französischem Leinen
bespannt, das in himmlischem Pastellrosa und Blau prangte. Eine umgestürzte
korinthische Säule lag in einer Regenpfütze.
Gwendolyn
durchquerte den Saal. Sie bahnte sich einen Weg durch die Scherben zerbrochenen
Geschirrs. Eine feine Porzellanscherbe hob sie auf und befühlte die glänzende
Oberfläche mit dem Daumen. Ihr Leben lang hatte sie sich solch schöne Dinge
gewünscht. Jetzt war sie traurig, dass alles zerstört war, das Porzellan und
die Träume, von denen es erzählte.
Als sie die
Scherbe in der Hand umdrehte, traf ihr Fuß einen abgetrennten Kopf. Sie hätte
fast losgeschrien, merkte aber gleich, dass es der Marmorkopf der Statue im
Burghof war – Aphrodite. Der Kopf lächelte wissend, voller Spott und Erbarmen
zugleich.
Dann sah
sie ihn.
Er saß wie
üblich im Dunkeln. Aber die Nacht versteckte ihn nicht in ihrer Finsternis. Er
saß mitten an einer langen Mahagonitafel, den Kopf in den verschränkten Armen
begraben. Vor ihm eine Kristallkaraffe, in der noch ein flacher Rest Whisky
stand, eine silberne Zündspandose und eine Kerze, die er nicht angezündet hatte.
Er trug weder Weste noch Mantel, nur ein Hemd mit achtlos hochgekrempelten
Ärmeln. Unter dem durchnässten, feinen Leinen zeichneten sich die Sehnen und
Muskeln seiner mächtigen Schultern ab.
Er nahm
ihre Anwesenheit nicht wahr. Sie brauchte nur auf Zehenspitzen
davonzuschleichen, um für immer von ihm frei zu sein. Als sie genau das tat,
rollte draußen ein Donner. Seine straffen Muskeln zuckten.
Ehe sie
noch begriff, was sie da tat, eilte Gwendolyn an
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