Verzaubertes Verlangen
Leidenschaft und Lust versagen sollte. Wenn ich ein Mann wäre, würde niemand von mir erwarten, auf ewig keusch zu bleiben.«
»Da haben Sie natürlich recht. Was bestimmte Dinge angeht, stellt die Gesellschaft für Männer und Frauen unterschiedliche Regeln auf.«
»Nichtsdestotrotz gibt es diese Regeln.« Sie seufzte. »Und man verstößt auf eigene Gefahr dagegen. Ich habe gewisse Verpflichtungen meiner Familie gegenüber. Ich muss darauf achten, jeglichen Skandal zu vermeiden, der meine Karriere als Fotografin ruinieren könnte. Mein Beruf ist unsere einzige Einkommensquelle.«
»Doch als Sie nach Arcane House kamen, ist Ihnen aufgegangen, dass die Situation Ihnen die ausgezeichnete Gelegenheit für ein Experiment in verbotener Leidenschaft bot, oder?«
»Ja.« Sie hatte inzwischen ihr Kleid angezogen und konzentrierte
sich betont auf das Schließen der Haken. »Mir ist nicht aufgefallen, dass Sie sich dagegen gesträubt hätten, Sir. Um genau zu sein, Sie schienen mehr als willens und bereit, an meinem Experiment teilzunehmen.«
»Ich war in der Tat mehr als willens und bereit.«
»Nun, damit wäre dann ja alles geklärt.« Erleichtert über den Triumph ihrer Logik, lächelte sie. »Es besteht für keinen von uns beiden Anlass, auch nur einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, was hier heute Abend geschehen ist. Wir werden alsbald wieder getrennte Wege gehen. Sobald ich nach Bath zurückkehre, wird mir dies alles nur noch wie ein Traum vorkommen.«
»Ich weiß ja nicht, wie es mit Ihnen steht«, sagte Gabriel, urplötzlich sehr grimmig. »Aber ich brauche jetzt frische Luft.«
»Ich möchte Ihnen ja nicht zu nahetreten, Sir, aber sind alle Männer nach dem Liebesakt so launisch?«
»Ich bin eben von Natur aus recht empfindsam.«
Er ergriff ihre Hand und führte sie abermals hinaus auf die Terrasse. Die Jacke, die er ihr vorhin umgelegt hatte, lag zerknüllt auf dem Steinboden. Er hob sie auf und legte sie ihr wieder um die Schultern.
»Also«, sagte er. Er umfasste die Revers des Jacketts und sah ihr tief in die Augen. »Lassen Sie uns auf Ihre Theorie zurückkommen, dass alles, was hier heute Nacht passiert ist, alsbald nichts weiter als ein Traum sein wird.«
»Was ist damit?«
»Ich habe schlechte Nachrichten für Sie, meine Liebste. Die Beziehung zwischen uns ist leider komplizierter, als Sie denken.«
»Ich verstehe nicht«, hauchte sie.
»Glauben Sie mir, dessen bin ich mir nur allzu bewusst. Aber ich glaube nicht, dass die heutige Nacht der richtige Zeitpunkt für eine ausführliche Erklärung ist. Morgen ist früh genug.«
Er beugte seinen Kopf vor, um sie zu küssen. Doch diesmal gab sie sich nicht der Umarmung hin. Ungewissheit nagte an ihr. Vielleicht hatte sie doch einen fatalen Fehler begangen.
Gabriels Launenhaftigkeit und seine aufbrausende Reizbarkeit verwirrten sie. Alles in allem verhielt er sich ausgesprochen seltsam für einen Mann, der sich gerade der Leidenschaft hingegeben hatte. Andererseits, was wusste sie schon davon, wie Männer sich nach solchen Erlebnissen aufführten?
Seine Lippen pressten sich auf die ihren. Sie schlug ihre Augen auf, stemmte ihre Hände gegen seine Schultern und schubste ihn mit aller Kraft von sich. Es war, als versuchte sie, einen Berg zu verschieben. Gabriel rührte sich nicht von der Stelle, doch er hob den Kopf.
»Wollen Sie mir denn einen Gutenachtkuss verwehren?«, fragte er.
Sie antwortete ihm nicht. Sie wollte zuerst seine Aura sehen. Die würde ihr vielleicht einen Hinweis auf seine wahren Gefühle geben.
Einen Augenblick lang pendelte ihre Sicht zwischen normal und paranormal. Licht und Schatten kehrten sich um. Die Nacht verwandelte sich in ein Fotonegativ.
Gabriels Aura wurde sichtbar. Doch auch die einer anderen Person.
Erschreckt schaute sie in den dunklen Wald jenseits des Gartens.
»Was ist?«, fragte Gabriel leise.
Sie erkannte, dass er augenblicklich begriffen hatte, dass etwas nicht stimmte.
»Da draußen im Wald ist jemand«, sagte sie.
»Einer unserer Bediensteten«, meinte er und wandte sich um, um ebenfalls in den Wald zu schauen.
»Nein.« Es gab nur wenige Bedienstete in Arcane House. Während der vergangenen Tage hatte die Neugier Venetia verleitet, all ihre Auren in Augenschein zu nehmen. Wer immer sich dort zwischen den Bäumen bewegte, war ein Fremder.
Eine zweite Aura tauchte auf, folgte eilig der ersten.
Es war zwecklos zu versuchen, Gabriel zu beschreiben, was sie sah. Es war besser, wenn er
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