Verzaubertes Verlangen
dachte, sie verfüge über Adleraugen. In gewisser Hinsicht entsprach es ja sogar der Wahrheit.
»Es sind zwei«, sagte sie leise. »Sie verbergen sich in der Dunkelheit. Ich glaube, sie halten auf den Wintergarten zu.«
»Ja«, erwiderte er. »Ich kann sie sehen.«
Sie sah ihn verblüfft an. Die Auren der Eindringlinge waren für ihre übersinnliche Wahrnehmung sichtbar, doch sie bezweifelte, dass Gabriel die beiden Männer nur mit Hilfe seiner normalen Sehkraft ausmachen konnte. Es drang nur wenig Mondschein in den Wald, der an Arcane House grenzte.
Ihr blieb keine Zeit, ihn danach zu fragen. Er hatte sich bereits in Bewegung gesetzt.
»Kommen Sie mit.« Er drehte sich und und packte sie am Arm.
Unwillkürlich umklammerte sie die Revers seiner Anzugjacke,
damit sie ihr nicht von den Schultern rutschte. Gabriel zog sie eilig durch die Terrassentür zurück in die Bibliothek.
»Wo gehen wir hin?«, fragte sie atemlos.
»Es lässt sich nicht sagen, wer die beiden sind oder was sie im Schilde führen. Ich will, dass Sie auf der Stelle das Haus verlassen.«
»Meine Sachen –«
»Vergessen Sie sie. Es bleibt keine Zeit zum Packen.«
»Meine Kamera«, beharrte sie. »Die kann ich nicht hierlassen.«
»Sie können sich von dem Geld, das Sie für diesen Auftrag bekommen haben, eine neue kaufen.«
Das stimmte, aber dennoch gefiel ihr der Gedanke nicht, ihre kostbare Ausrüstung zurückzulassen, von ihrer Garderobe ganz zu schweigen. Sie hatte ihre besten Kleider mit nach Arcane House gebracht.
»Mr. Jones, was geht hier vor? Diese Eile ist doch sicherlich übertrieben. Wenn Sie die Bediensteten rufen, werden die schon dafür sorgen, dass diese Einbrecher nicht ins Haus gelangen.«
»Ich bezweifle sehr, dass es sich bei den beiden um gewöhnliche Wald-und-Wiesen-Diebe handelt.« Gabriel hielt neben dem Schreibtisch inne und griff nach der samtenen Klingelschnur. Er zog dreimal kurz und kräftig daran. »Das gibt den Bediensteten Bescheid. Sie haben ihre Anweisungen für derartige Notfälle.«
Er zog die oberste Schreibtischschublade auf und langte hinein. Als er sich wieder aufrichtete, sah Venetia eine Pistole in seiner Hand.
»Folgen Sie mir«, befahl er. »Ich werde Sie unbeschadet
hier herausbringen, und dann werde ich mich um die Eindringlinge kümmern.«
Hundert Fragen schossen ihr durch den Sinn, doch der Tonfall seiner Stimme verlangte unbedingten Gehorsam. Was immer hier vor sich ging, Gabriel war offenkundig überzeugt, dass es sich um mehr als einen gewöhnlichen Einbruch handelte.
Sie raffte ihre Röcke und eilte ihm hinterher. Sie nahm an, dass sie auf die Tür zuhielten, die in das großzügige Vestibül führte. Doch zu ihrer Verblüffung ging Gabriel zu der klassischen Statue eines griechischen Gottes, die neben einem Bücherregal stand, und bewegte einen der Steinarme.
Im Innern der Wand ertönte das erstickte Ächzen schwerer Angeln. Ein Abschnitt der Täfelung schwang träge auf und offenbarte eine schmale Stiege. Venetia konnte nur die obersten Stufen sehen. Der Rest verlor sich in der Dunkelheit.
Gabriel hob eine Laterne auf, die am Kopf der Treppe abgestellt war, und riss ein Streichholz an. Der gelbe Laternenschein drang in die Finternis unterhalb der Stufen vor. Er wartete, bis Venetia zaudernd auf die erste Stufe getreten war, bevor er die Geheimtür hinter ihnen zuzog.
»Seien Sie vorsichtig«, warnte Gabriel und stieg die ersten Stufen hinab. »Die Stiege ist sehr ausgetreten. Sie gehört zum ältesten Teil der Abtei.«
»Wo führt sie hin?«
»Zu einem Geheimtunnel, der dem Kloster einst im Falle eines Überfalls als Fluchtweg diente«, sagte er.
»Weshalb glauben Sie, dass diese beiden Eindringlinge keine gewöhnlichen Halunken sind?«
»Abgesehen von den Mitgliedern der Gesellschaft wissen nur wenige, dass Arcane House überhaupt existiert, ganz zu schweigen davon, wo genau es liegt. Sie werden sich erinnern, dass Sie bei Dunkelheit hierhergebracht wurden, in einer geschlossenen Kutsche. Könnten Sie Ihren Weg zurück finden?«
»Nein«, gestand sie.
»Alle Besucher von Arcane House kommen in ähnlicher Weise her. Und doch wissen diese beiden Schurken anscheinend genau, wohin sie gehen und worauf sie es abgesehen haben. Ich muss deshalb davon ausgehen, dass es keine schlichten Einbrecher sind, die zufällig auf ein lohnend wirkendes Haus gestoßen sind.«
»Ich verstehe, was Sie meinen.«
Gabriel erreichte den Fuß der Stiege. Venetia wäre beinahe in ihn
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