Verzaubertes Verlangen
»Sie haben die Absicht, hier einzuziehen?«
»Sie mögen es nicht glauben, aber es gibt sicher etliche, die es recht außergwöhnlich, ja sogar schockierend fänden, wenn Sie darauf bestünden, dass Ihr Gatte sich eine Unterkunft in einem anderen Stadtteil sucht.«
Sie wurde krebsrot. »Ja, nun, unter den Umständen sehe ich keine andere Möglichkeit. Sie können hier nicht einziehen, Sir.«
»Seien Sie doch vernünftig, Mrs. Jones. Sie wissen ja, wie es so schön heißt: Eines Mannes Heim ist seine Festung. In der feinen Gesellschaft wäre man entsetzt, wenn Sie von mir verlangen würden, woanders zu wohnen.«
»Dieses Heim lässt sich wohl kaum als Festung bezeichnen«, entgegnete sie. »Um ehrlich zu sein, wir leben hier recht beengt. Alle Zimmer sind belegt.«
»Was ist mit den Dienstboten? Wo schlafen die?«
»Es gibt nur eine Bedienstete, die Haushälterin, Mrs. Trench. Sie hat die kleine Stube neben der Küche. Sie können nicht von mir verlangen, dass ich sie zwinge, diese aufzugeben. Sie würde auf der Stelle kündigen. Haben Sie auch nur die leiseste Ahnung, wie schwierig es ist, eine gute Haushälterin zu finden?«
»Es muss doch irgendeinen Platz geben, wo ich schlafen kann. Ich versichere Ihnen, ich bin nicht wählerisch. Ich habe einen gut Teil meines Lebens damit zugebracht, fremde Länder zu bereisen. Ich bin es gewöhnt, ohne Komfort auszukommen.«
Sie musterte ihn lange und eingehend.
»Nun, ein freies Zimmer gäbe es da schon«, sagte sie schließlich.
»Ich bin sicher, dass es mehr als ausreichend ist.« Er sah zur Tür. »Also, vielleicht sollten Sie mich jetzt besser den anderen Mitgliedern Ihrer Familie vorstellen. Ich glaube, sie warten draußen in der Diele. Sie brennen zweifelsohne darauf, zu erfahren, was hier drinnen vor sich geht.«
Sie runzelte die Stirn. »Woher wissen Sie, dass sie dort draußen sind? Ach, egal.«
Sie stand auf, kam um den Schreibtisch herum und durchquerte das Zimmer. Als sie die Tür öffnete, sah sich Gabriel einer kleinen Traube besorgter Gesichter gegenüber. Die Haushälterin, eine ältere Frau in einem altjüngferlichen Aufzug, eine hübsche junge Lady um die sechzehn und ein Knabe, der um die neun oder zehn Jahre alt sein musste.
»Dies ist Mr. Jones«, sagte Venetia. »Er wird eine Weile bei uns wohnen.«
Auf den Gesichtern der kleinen Gruppe in der Diele spiegelten sich Staunen und Neugier, während sie Gabriel eingehend musterten.
»Meine Tante, Miss Sawyer«, stellte Venetia vor. »Meine Schwester Amelia, mein Bruder Edward und unsere Haushälterin, Mrs. Trench.«
»Meine Damen.« Gabriel verbeugte sich galant. Dann lächelte er Edward zu, der mit beiden Händen ein einschüchterndes Küchenmesser umklammerte. »Ah, ein Bursche nach meinem Geschmack.«
9
»Du hast ihn in die Dachkammer verbannt?« Amelia stellte das Tablett mit den Retuschierpinseln und -tinten ab. »Aber er ist dein Ehemann.«
»Es scheint hier ein entscheidendes Missverständnis vorzuliegen.« Venetia packte die Kante des großen Metallgestells, an dem der gemalte Hintergrund eines italienischen Gartens hing. »Mr. Jones ist nicht mein Ehemann.«
»Ja, das weiß ich doch«, erwiderte Amelia ärgerlich. »Aber der Punkt ist, dass die Leute glauben sollen, dass er dein Ehemann ist.«
»Dafür kann ich nichts«, sagte Venetia und zog den Hintergrund hinter den Sessel für den Kunden.
»Das ist Ansichtssache, wenn du mich fragst.« Amelia machte sich daran, die große Auswahl an Requisiten zu durchforsten. »Was sollen die Nachbarn denken, wenn sie herausfinden, dass du Mr. Jones in der Dachkammer untergebracht hast?«
»Ich hatte ja keine große Wahl.« Venetia ließ das Gestell mit dem Hintergrund los und trat einen Schritt zurück, um das Ergebnis in Augenschein zu nehmen. »Ich werde auf keinen Fall mein Zimmer aufgeben und in die Dachkammer ziehen. Ebensowenig werde ich zulassen, dass du oder Edward oder Tante Beatrice aus euren Zimmern vertrieben werdet. Das wäre nicht richtig.«
»Ich bezweifle, dass es Mr. Jones überhaupt recht wäre, uns derartige Umstände zu bereiten«, erklärte Amelia. Sie wählte eine italienisch anmutende Vase aus dem Fundus aus. »Dafür ist er zu sehr Gentleman.«
»Wenn es ihm passt«, murmelte Venetia grimmig.
Sie empfand noch immer jene Mischung aus Wut, Anspannung und tiefster Bestürzung, die von ihr Besitz ergriffen hatte, nachdem die anfängliche Freude über die Entdeckung, dass Gabriel noch lebte, verflogen war. Es
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