Verzaubertes Verlangen
spitzbogigen Eingang einer uralten Kirche. Die Szene schlug den Betrachter unweigerlich in ihren Bann.
»Man hat fast den Eindruck, die Lady, die wir dort sehen, sei ein Geist, der sich uns manifestiert«, bemerkte Harrow. »Sie unterstreicht und betont die gespenstische neogothische Qualität der Architektur, finden Sie nicht auch?«
»Ja, das tut sie«, bestätigte Gabriel und wandte sich von dem Bild ab. Er sah Willows auf den Ausgang zugehen.
»Mrs. Jones gelingt es, all ihren Fotografien eine undefinierbare Sinnlichkeit zu verleihen«, fuhr Harrow fort. »Wissen Sie, ich habe mir ihre Werke wohl schon hunderte von Malen angeschaut, und doch kann ich noch immer
nicht sagen, welcher Aspekt genau mich fasziniert. Ich habe sie einmal gefragt, wie sie diese zutiefst bewegende Wirkung auf den Betrachter erreicht.«
Willows verschwand. Gabriel wandte sich wieder Harrow zu.
»Und was hat sie geantwortet?«, fragte er.
»Nur, dass es etwas mit der Beleuchtung zu tun hätte«, sagte Harrow.
»Eine gute Antwort.« Gabriel zuckte mit den Achseln. »Die Kunst des Fotografen besteht darin, Licht und Schatten einzufangen und auf Papier zu bannen.«
Harrows feingeschnittene Züge verzogen sich zu einem sarkastischen Lächeln. »Das sagt Ihnen jeder Fotograf, und ich gestehe gern ein, dass an dieser Aussage viel Wahres ist. Ich verstehe durchaus, dass die richtige Beleuchtung ausgesprochen schwierig und kompliziert ist und sowohl Intuition als auch ein künstlerisches Auge verlangt. Doch was Mrs. Jones’ Arbeiten angeht, so neige ich zu der Ansicht, dass noch irgendein anderes Talent beteiligt ist.«
»Was für ein anderes Talent?«, wollte Gabriel mit plötzlich erwachtem Interesse wissen.
Harrow betrachtete das Foto der geisterhaften Lady. »Es ist, als würde sie etwas Einzigartiges in ihren Modellen erkennen, etwas Verborgenes. Und dann nutzt sie jede Möglickeit der Wissenschaft und der Kunst der Fotografie, um diese Eigenschaft im fertigen Bild zum Ausdruck zu bringen.«
Gabriel betrachtete abermals das Bild von Amelia im Eingang der Kirche.
»Ihre Bilder handeln von Geheimnissen«, sagte er.
Harrow sah ihn fragend an. »Wie bitte?«
Gabriel dachte an die Fotos, die Venetia im Arcane House gemacht hatte. Es war ihr gelungen, nicht nur detailgetreue Abbilder der verschiedenen Raritäten anzufertigen, sondern auch einen Hauch des Rätselhaften einzufangen, das jedem einzelnen Gegenstand anhaftete.
»Die Bilder meiner Frau enthüllen im gleichen Maße, wie sie verhüllen«, sagte er. Es war erstaunlich, wie mühelos ihm die Worte meine Frau über die Lippen kamen. »Das ist es, was den Blick des Betrachters bannt. Schließlich weckt nichts die Neugier der Menschen so nachhaltig wie das, was vor ihnen verborgen bleiben soll.«
»Ah, ja, natürlich«, sagte Harrow leise. »Die Faszination des Verbotenen. Es gibt nichts Aufregenderes als ein gut gehütetes Geheimnis, stimmt’s?«
»Ganz genau.«
Harrow neigte nachdenklich den Kopf. »Das ist es. Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich hätte früher darauf kommen sollen. Ihre Frau fotografiert Geheimnisse.«
Gabriel warf einen Blick auf das Bild und zuckte mit den Achseln. »Ich dachte, das wäre offensichtlich.«
»Ganz im Gegenteil. Sie müssen nur einmal einige der Zeitungskritiken lesen, um festzustellen, dass den Verfassern schlichtweg die Worte fehlen, wenn es darum geht, den Reiz der Fotografien Ihrer Frau zu beschreiben. Um genau zu sein, sie wurde in der Presse oftmals kritisiert, gerade weil ihre Themen nicht ermüdend offensichtlich sind.«
»Sie hat Kritiker?«
Harrow lachte. »Sie klingen verärgert. Aber Sie können sich Ihre Zeit und Ihre Energie sparen. Wenn es um Kunst geht, gibt es immer Kritiker. Das liegt in der Natur der Dinge.
« Er schaute sich im Saal um. »Da drüben am Büffet haben wir gleich einen Vetreter dieser Zunft.«
Gabriel folgte seinem Blick. »Ah, ja, Mr. Otford vom Flying Intelligencer . Wir sind uns bereits begegnet.«
»Ja, er hat den anrührenden Artikel über Ihre unerwartete Rückkehr in der Morgenzeitung verfasst, oder nicht? Sie werden seine schwülstige Kritik von Mrs. Jones’ Arbeiten zweifellos in der morgigen Ausgabe lesen können.«
»Ich freue mich schon darauf, seine Ansichten und Einsichten zu lesen«, sagte Gabriel.
»Ach.« Harrows Abscheu war unverkennbar. »Reine Zeitverschwendung. Ich versichere Ihnen, dass Sie mehr Sachverstand in Ihrem kleinen Finger haben als dieser Mann in seinem
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