Verzaubertes Verlangen
andere in seinem Club.« Harrow trank einen Schluck Champagner. »Sie wissen ja, wie das ist.«
»Ich bin länger nicht mehr in London gewesen«, rief Gabriel ihm ins Gedächtnis. »Ich fürchte, ich bin nicht mehr auf dem Laufenden.«
Zumindest das war die reine Wahrheit, dachte er. Von der einsiedlerischen Jones-Familie interessierte sich kaum einer
für die feine Gesellschaft. Eine Tatsache, die ihm nun gut zupass kam, da er sich ohne großes Risiko, wiedererkannt zu werden, in den gehobenen Kreisen bewegen konnte.
»Ja, natürlich«, sagte Harrow. »Und dann war da diese schreckliche Amnesie, unter der Sie nach Ihrem Unfall gelitten haben. Das kann Ihrem Gedächtnis nicht gerade geholfen haben.«
Gabriel erkannte, dass er mit seinen forschenden Fragen etwas zu weit gegangen war. Harrow fing an, neugierig zu werden. Das war nicht gut.
»Nein«, stimmte er zu.
»Wann ist Ihnen denn wieder eingefallen, dass Sie eine Frau haben?«, wollte Harrow wissen.
»Ich glaube, die Erinnerung daran kehrte eines Morgens zurück, als ich mich in einem Hotel in San Francisco an den Frühstückstisch setzte«, fabulierte Gabriel. »Plötzlich ging mir auf, dass da keine treue Ehefrau war, die mir Tee einschenkte. Aber es schien mir eindeutig so, als ob da eine sein sollte. Ich begann mich zu fragen, ob ich sie verlegt hätte. Und dann fiel mir schlagartig alles wieder ein, wie ein Blitz aus heiterem Himmel.«
Harrow zog seine Augenbrauen hoch. »Es muss schon ein sehr heftiger Schlag auf den Kopf gewesen sein, der einen Mann Mrs. Jones vergessen lässt.«
»Wohl wahr«, pflichtete Gabriel bei. »Kopfüber in eine Schlucht zu stürzen, kann diese Wirkung haben, fürchte ich.«
Er schaute zur gegenüberliegenden Seite des Saals, wo Venetia der Mittelpunkt einer Traube von Leuten war. Ihr Träumendes Mädchen , das jüngste Bild in der Träume -Serie, hing hinter ihr an der Wand.
Die Fotografie war ein dunkel stimmungsvolles Bild eines schlafenden Mädchens in einem wallenden, hauchdünnen weißen Gewand. Gabriel hatte es sich vorhin genau angesehen und Amelia als das Modell wiedererkannt. Eine Siegesschleife für den ersten Preis baumelte von einer Nadel neben dem Bild.
Harrow folgte seinem Blick. »Mir ist aufgefallen, dass Mrs. Jones noch immer schwarz trägt, trotz Ihrer Rückkehr ins Reich der Lebenden.«
»Sie erwähnte etwas davon, dass sie keine schicken Kleider in einer anderen Farbe hätte«, sagte Gabriel. »Und es blieb keine Zeit, ein neues Kleid für die heutige Veranstaltung zu kaufen.«
»Sie kann es sicher kaum abwarten, all die Trauergewänder gegen farbenfreudigere Kleider auszutauschen.«
Gabriel ging nicht auf die Bemerkung ein. Er bezweifelte irgendwie, dass Venetia schnurgerade zu einer Schneiderin eilen würde, um seine Rückkehr zu feiern.
In diesem Moment beugte sich einer der Männer aus der Traube um Venetia ein wenig dichter heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das sie schmunzeln ließ.
Gabriel verspürte den überwältigenden Drang, quer durch den Saal zu stürzen, den Mann am Kragen zu packen und ihn vor die Tür zu setzen.
Harrow sah ihn an. »Es muss eine herbe Enttäuschung für Sie gewesen sein, als Sie feststellten, dass Mrs. Jones bereits eine Verabredung für den heutigen Abend hatte.«
»Wie bitte?«, sagte Gabriel geistesabwesend. Seine ganze Aufmerksamkeit galt noch immer dem Mann, der sich so dicht an Venetia heranbeugte.
»Ich bezweifle doch sehr, dass ein Mann, der für so lange
Zeit von seiner Braut getrennt war, besonders glücklich darüber ist, seinen ersten Abend daheim bei einer Fotoausstellung zu vergeuden.«
Harrow drehte den Spieß um, ging es Gabriel durch den Sinn. Der jüngere Mann stellte jetzt die Fragen.
»Zu meinem Glück sind die Fotografien meiner Frau atemberaubend«, sagte Gabriel.
»Wohl wahr. Leider kann man das von den meisten anderen der hier ausgestellten Bilder nicht behaupten.« Harrow drehte sich wieder zu der Fotografie an der Wand um. »Mrs. Jones’ Werke ziehen den Betrachter auf ganz subtile Weise in ihren Bann, nicht wahr? Ihre Bilder zwingen einen, sich eingehender mit der Szene zu beschäftigen.«
Gabriel betrachtete die Fotografie, die Harrow so bewunderte. Bei dem Bild handelte es sich um eine Architekturaufnahme. Im Gegensatz zu den anderen Bildern in dieser Kategorie, die daneben hingen, gab es in Venetias Komposition eine menschliche Gestalt. Eine Frau – abermals Amelia, den Hut in ihrer behandschuhten Hand – stand im
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