Verzaubertes Verlangen
räusperte sich vielsagend. »Man sollte meinen, dass man nach einen solchen Schock, wie Sie ihn heute erlebt haben, das Bedürfnis verspüren würde, sich ein, zwei Tage in sein Bett zurückzuziehen, um sich zu erholen.«
»Unsinn, Mrs. Chilcott.« Venetia ließ ihren schwarzen Seidenfächer einige Male auf- und zuschnappen, während sie versuchte, die Seitentür im Auge zu behalten. »Man darf sich nicht durch zerrüttete Nerven von der Erfüllung seiner Pflichten abhalten lassen.«
Agatha warf einen Blick zur gegenüberliegenden Seite des Saals, wo Gabriel sich mit dem weißhaarigen, bebrillten Christopher Farley, dem Mäzen der Ausstellung, unterhielt.
»Ich bewundere Ihre Stärke, meine Liebe«, sagte Agatha.
»Danke. Man tut, was man muss. Doch nun muss ich Sie leider bitten, mich zu entschuldigen, Mrs. Chilcott.«
Agathas dicke, aufgemalte Augenbrauen hoben sich.
»Aber selbst wenn Sie sich stark genug fühlten, um Ihren Verpflichtungen nachzukommen, sollte man doch annehmen, dass Mr. Jones möglicherweise andere Absichten hatte, wie er diesen Abend verbringen wollte.«
Verblüfft von dieser Bemerkung, hielt Venetia inne. Agatha konnte unmöglich von Gabriels Plänen, den Dieb aufzuspüren, wissen.
»Wie bitte?«, sagte sie verhalten. »Warum sollte Mr. Jones andere Absichten haben?«
»Man sollte doch erwarten, dass ein so offensichtlich gesunder und kräftiger Gentleman, der gezwungen war, eine lange Zeit ohne die zärtlichen Zuwendungen einer liebenden Gattin auszukommen, das starke Bedürfnis hätte, seinen ersten Abend in London zu Hause zu verbringen.«
»Zu Hause?«
»Im Schoß seiner Familie, wenn man es so ausdrücken möchte.« Agatha presste ihre gefalteten Hände gegen ihren üppigen Busen. »Um die intimen Beziehungen mit seiner Frau wieder aufzunehmen.«
Endlich begriff Venetia, und der Gedanke traf sie wie ein elektrischer Schlag. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Bestürzung packte sie. Spekulierten alle im Saal über den Stand ihrer intimen Beziehungen zu Gabriel und fragten sich, warum die beiden den Abend nicht zusammen im Bett verbrachten?
Sie war so auf die mannigfaltigen Probleme fixiert gewesen, denen sie gegenüberstand, dass ihr nicht einmal in den Sinn gekommen war, dass die romantischen Verwicklungen ihrer Lage die Leute faszinieren könnten.
»Es ist nicht nötig, sich in dieser Hinsicht Sorgen zu machen,
Mrs. Chilcott.« Sie setzte dasselbe aufmunternde Lächeln auf, das sie Agatha geschenkt hatte, als sie der Lady versicherte, das große Muttermal auf ihrem Kinn werde auf dem fertigen Kleopatra-Porträt nicht mehr zu sehen sein. »Mr. Jones und ich hatten vorhin Gelegenheit zu einer netten Unterhaltung. Wir haben einander alles erzählt, was in der Zwischenzeit passiert ist.«
»Eine Unterhaltung? Aber meine Liebe, der Artikel im Flying Intelligencer deutete an, dass Mr. Jones sich mit inbrünstigster Sehnsucht darauf freue, mit Ihnen wiedervereint zu werden.«
»Ich bitte Sie, Mrs. Chilcott. Sie sind eine Frau von Welt. Ich bin sicher, dass Sie sich bewusst sind, dass die inbrünstigsten und sehnsüchtigsten Wiedervereinigungen nicht zwangsläufig viel Zeit in Anspruch nehmen müssen.«
»Das mag ja sein, Mrs. Jones, aber mir ist doch aufgefallen, dass Mr. Jones den Großteil des Abends auf der anderen Seite des Saals zugebracht hat.«
»Was ist damit?«
»Man sollte doch denken, dass es ihm widerstreben würde, heute Abend von Ihrer Seite zu weichen.«
»Ich versichere Ihnen, Mr. Jones ist durchaus in der Lage, sich anderweitig zu beschäftigen.«
Agatha fixierte sie mit einem durchdringenden Blick. »Ach ja?« Abrupt wurde ihre Miene milder. »Ah, ich denke, ich verstehe das Problem.«
»Es gibt kein Problem, Mrs. Chilcott.«
»Unsinn, meine Liebe. Sie müssen nicht schüchtern sein. Es ist ganz verständlich, dass zwischen einem Ehepaar, das so lange getrennt war, eine gewisse natürliche Verlegenheit besteht.«
»Nun, natürlich.« Venetia stürzte sich auf diese Erklärung. »Eine große Verlegenheit.«
»Besonders unter den Umständen«, fügte Agatha taktvoll hinzu.
»Unter welchen Umständen?«
»Ich glaube mich zu erinnern, dass Mr. Jones während Ihrer Flitterwochen verschollen ging.«
»Ganz richtig«, bestätigte Venetia. »Er ist sang- und klanglos verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Ist in einen tiefen Canyon gestürzt. Wurde von einem reißenden Strom fortgespült. Leiche wurde nie gefunden. Für tot erklärt.
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