Verzehrende Sehnsucht
deprimierende Vision ihrer eigenen Zukunft aus. Plötzlich erkannte sie, dass sie bisher nicht geahnt hatte, wie schlimm Einsamkeit sein konnte.
Ihr Leben hätte viel schlechter sein können, natürlich. Beträchtlich schlechter. Sie war die Tochter eines reichen Lords, also würde sie weder Hunger noch Kälte leiden. Sie hatte Freunde hier, ganz besonders Dobbin, der wie ein Vater für sie war. Sie würde immer ein Zuhause haben.
In der Stille sprach sie ein Dankgebet für alles, was sie ihr Eigen nannte. Und ein weiteres Gebet der Hoffnung, dass sie Laelia den Ehemann nicht neiden würde, wenn es wirklich Sir Blaidd werden sollte.
Becca erhob sich, bekreuzigte sich und ging zur Tür. Als sie den Hof betrat, warf sie einen flüchtigen Blick zum Tor, um zu sehen, wer heute Nacht Wache hielt. Sie erblickte zwei Männer, die gerade das Tor passierten. Der eine schien bewusstlos zu sein, während der andere den Bewusstlosen offenbar schleppte.
Der Helfende hatte ziemlich langes Haar. Waren das etwa Sir Blaidd … und sein Knappe?
Becca lief, so schnell sie konnte. Sie hatte Angst, dass dem Knaben etwas zugestoßen sein könnte. "Sir Blaidd", rief sie aus, als sie näher kam. "Ist Trev verletzt?"
Sir Blaidd blieb stehen. "Nein. Aber er hat zu viel getrunken und daraufhin das Bewusstsein verloren. Ich bedaure sehr, das sagen zu müssen, Mylady."
Der Junge hob den Kopf. "Ich binnn betrunken", lallte er undeutlich. "Nu… schläfrig."
Sir Blaidd schnitt eine Grimasse und hob eine Braue, als wolle er sagen: Seht Ihr?
Becca wollte die Situation nicht noch angespannter machen, als sie ohnehin schon war. Becca wusste, dass seit ihrem Ausritt mit Trev Zwietracht zwischen den Männdern herrschte. Sie bemühte sich also, weder entsetzt noch enttäuscht zu klingen. "Er ist noch sehr jung. Und junge Menschen tun manchmal dumme Dinge. Lasst mich Euch helfen."
Sie ging auf die andere Seite von Trev und legte den rechten Arm des Jungen auf ihre Schulter.
"Das müsst Ihr nicht, Mylady", wandte Sir Blaidd ein. "Ich komme schon zurecht."
"Wenn Ihr ihn in diesem Zustand vom Dorf hergeschleppt habt, nehme ich an, dass Ihr recht müde sein müsst. Trotz meines Beins habe ich keinerlei Probleme damit, Euch zu helfen."
Sie sprach in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Und diesmal protestierte Sir Blaidd klugerweise nicht.
Als sie zu den Schlafgemächern liefen, meinte Becca: "Ich fand schon beim Abendessen, dass er ein wenig mitgenommen aussieht. Ich hätte Meg anweisen sollen, ihm nicht mehr nachzuschenken."
"Ich hätte ihm verbieten sollen, weiter zu trinken", erwiderte Sir Blaidd. "Ich trage schließlich die Verantwortung für ihn."
Das konnte und wollte sie nicht abstreiten. "Wo habt Ihr ihn gefunden?"
Sir Blaidds Gesichtsausdruck veränderte sich. Und sie erriet die Antwort, bevor er antworten konnte. "Im Freudenhaus. Er hatte zum Glück keine Zeit, etwas wirklich Dummes anzustellen."
Sie war verblüfft über den empörten Unterton.
Er fing ihren Blick auf. "Das sind einfach erbärmliche Orte. Für verzweifelte Männer und noch verzweifeltere Frauen."
"Ich dränge meinen Vater schon seit Jahren, einen Weg zu finden, das Freudenhaus zu schließen. Aber er hat es bis jetzt nicht getan. Er ist der Auffassung, dass Männer einen derartigen Ort für ihr Vergnügen brauchen."
"Das ist ein sehr ungesundes Vergnügen. Für die Huren und für die Kunden gleichermaßen." Sir Blaidd schien bemerkenswerte Ansichten darüber zu haben, was Becca gegen ihren Willen beeindruckte.
Und doch … "Manch arme Frau hatte möglicherweise keine andere Wahl."
"Ich weiß." Der Ritter seufzte resigniert.
Erst als sie den Eingang zu den Gemächern erreicht hatten, fiel Becca ein, dass es wieder einmal sehr undamenhaft von ihr war, mit ihm über käufliche Liebe zu reden.
Den ohnmächtigen Trevelyan die Treppe hochzuhieven war ein derart anstrengendes Unterfangen, dass jedes Gespräch zwischen Becca und Blaidd endete. Schließlich gelangten sie in den zweiten Stock und schleppten den Knaben langsam einen Gang entlang. Am Tag fiel Sonnenlicht durch die schmalen bogenförmigen Fenster, jetzt beleuchtete Mondlicht spärlich den Flur. Es war Vollmond, und deshalb brannten an diesem Abend keine Fackeln in den Haltern.
Als sie im Zimmer von Blaidd und Trev angekommen waren, half Becca Sir Blaidd, den Jungen aufs Bett zu legen. Der Ritter packte einen Stiefel des Jungen, sie den anderen, und gemeinsam zogen sie ihm die Stiefel von den
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