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Verzweifelte Jahre

Verzweifelte Jahre

Titel: Verzweifelte Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitta Sirny-Kampusch
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lang schien sie mich völlig zu vergessen, addierte, berechnete Quersummen, überlegte ein bisschen, addierte wieder. Nichts davon wirkte sehr abgehoben, sie hätte genauso gut meine Buchhalterin sein können. »Sie sind eine Sieben«, sagte sie schließlich. Ich wartete auf mehr. »In der biblischen Zahlensymbolik schreibt man ihr Geburt, Tod, Magie zu .« Magie? »Sieben ist eine heilige Zahl .« Sie machte eine Pause. »Und sie steht für Sieg .«

6

    »Natascha lebt.« So klingt die Wahrheit, dachte ich. Sie sagte es ganz ruhig. Kein Zweifel war herauszuhören. Sie glaubte nicht dran, sie sah es vor sich. In den Zahlen. Ich wusste es instinktiv, Tina sprach es aus. Es gab nicht viele Menschen, die sich das in meiner Gegenwart zu sagen trauten. Man könnte mir zu viel Hoffnung machen. Wenn man selbst nicht mehr mit der Möglichkeit rechnet, tut man sich schwer, jemandem Mut zu machen. Die Polizei hatte praktisch aufgegeben. Sie ermittelten weiter, aber schon mehr aus Pflichtbewusstsein. Damit man ihnen nichts nachsagen konnte. Für sie war Natascha ein ungelöster Fall und würde es bleiben. Ein offener Akt. »Ich bin sicher, Natascha lebt«, sagte Tina noch einmal. »Ich weiß es«, sagte ich. Tina betrachtete ihre Zahlen, bis sich etwas in ihrem Gesicht veränderte. »Was sehen Sie ?« »Geld ist im Spiel«, sagte sie. »Inwiefern?« »Das kann ich nicht erkennen. Es hat was mit dem... « Sie brach mitten im Satz ab. »Mit was?« »... mit dem Vater zu tun. Der Vater ist involviert, irgendwie .« Ich erzählte ihr von seinem Umgang, seinen Schulden, dem weißen Lieferwagen. Aber die Zahlen schwiegen. Sie hantierte mit ihren Karten herum, Zigeunerkarten, erklärte sie mir.
    »Moment, da ist noch was«, sagte sie. »Ich sehe ein Haus, ein Haus im Grünen, nicht allzu weit entfernt von euch .« »Außerhalb von Wien?« »Also, Adressen werden mir nicht mitgeliefert .« Sie lachte. »Aber vor dem Haus, da ist ein... « Sie beugte sich vor, wie um genauer sehen zu können. »... ein Brunnen oder so was Ähnliches. Ohne Wasser.« Wo kann das sein? Wer hat noch einen Brunnen im Garten? Das kann doch nicht so schwer zu finden sein. »Ein Gefängnis im Grünen«, sagte Tina. »Darauf müssen wir uns konzentrieren. Die nächsten paar Jahre .« Die Zeitangabe schreckte mich. »So lang?« »Ich sehe eine Sieben. Nein, eine Acht. Dann taucht Natascha wieder auf. In acht Jahren.« Sie sah, wie ich erschrak. »Vielleicht finden wir sie ja früher. Wir haben doch ein paar Anhaltspunkte .« Das Wir gab mir Zuversicht. Da war jemand, der mir nicht nur helfen wollte, sondern offenbar auch konnte. Ich war nicht ganz allein auf meiner Reise.

*

    »... die Wiener Polizei ist ratlos .«
    Der Moderator sah noch ein paar Sekunden in die Kamera, dann ging der Film ab. Nachgestellte Szene, las ich im Insert. Ein Mädchen kam aus einem Haustor.
    Es war nicht unser Haustor, es war nicht mein Kind.
    »Ich kann mir das nicht anschauen«, sagte Sabina und blieb sitzen. Ich starrte auf den Bildschirm. Verfolgte jeden Schritt des Mädchens wie gebannt. Ich hatte mich immer gefragt, wer sich Aktenzeichen XY ungelöst anschaut. Und warum. Das war kein Krimi mit einem Happy End. Das war echt. Und jetzt war’s unsere Geschichte. Das Mädchen ging seinen Weg. Die Kamera im Rücken. Ein bisschen verwackelt. Der Zuschauer sollte alles aus seiner Perspektive sehen. Als der weiße Lieferwagen ins Bild kam, schloss ich kurz die Augen. Sabina stand auf. Ein Mann lehnte am Auto. Die Film-Natascha war noch weit entfernt von ihm, hatte ihn noch nicht gesehen, an ihrem Schritt veränderte sich nichts. Langsam kam sie auf ihn zu, immer langsamer. Eine Hand griff nach der Kleinen. Sie verschwand im Wagen. »Warum zeigen die das in Zeitlupe ?« , fragte ich. »Wieso Zeitlupe?« Sabina kannte sich nicht aus. »Das war doch alles so langsam, so wird doch keiner in ein Auto gezerrt .« »Da war keine Zeitlupe, Mama, das ist dir nur so vorgekommen .« Als hätte ich einen Schutzmechanismus im Hirn, dachte ich. Etwas, das das Grauen dämpft, damit es zum Aushalten ist. Der Film war aus. Sie zeigten wieder den Moderator im Studio. Und gleich darauf ein Phantombild. Ein Männergesicht, Augen, Nase, Mund, Haare. Es hätte auf hunderttausend Menschen gepasst. »Wenn irgendjemand diesen Mann schon einmal gesehen hat oder an diesem 2. März in der Nähe etwas beobachtet hat, was der Polizei weiterhelfen könnte, wenden Sie sich bitte an die Kripo Wien .« Eine

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