Verzweifelte Jahre
Schlaflosigkeit. Zur Zeit hatte ich so gut wie kein Verhältnis, sie verging neben mir, blieb manchmal stehen, lief mitunter zurück. Ich kümmerte mich nicht mehr darum.
Ich lebte um ein paar Fixtermine in der Woche herum. Physiotherapie und Krankengymnastik im Böhler, das Kommen und Gehen der Kinder, Tinas Besuche. Die spärlichen Anrufe der Polizei, die mir nichts Neues zu sagen hatte.
Bis Martin Wabl einen Brief ans Innenministerium schrieb. Martin Wabl, dachte ich, der Mann mit der Sonnenblume. Der zwangspensionierte Familienrichter, der so gern hilft. Plötzlich vor fremden Türen steht und unangemeldet Freunde mitbringt, die dann mit ihm verhaftet werden, weil er sonntags herumschleicht und sich als Polizist ausgibt. Ich konnte mich gut erinnern an den Herrn Wabl. Er sich offenbar noch besser an mich. Brigitta Sirny, teilte er dem Innenministerium in seinem Schreiben mit, habe ein Verhältnis gehabt. Mit einem gewissen Herrn Schor. Wer das ist, erfuhr ich aus dem Sicherheitsbüro. Es war der Mann, der sein Auto repariert und seine Frau gebeten hatte, die Polizei zu rufen, weil ihm der ältere Herr verdächtig vorgekommen war, der sich am Rennbahnweg nach der Schule erkundigt hatte. Ich hatte ihn nie gesehen. Jetzt hatte ich ein Verhältnis mit ihm. Weiters habe Brigitta Sirny, so stand es in dem Brief, nicht nur sexuelle Kontakte zu erwähntem Herrn Sochor unterhalten, die beiden hätten auch Frau Sirnys Tochter sexuell missbraucht. An dieser Stelle wurde mir schlecht. Aber Wabls Mitteilungsdrang war noch nicht erschöpft. Denn Brigitta Sirnys Ex-Schwager, Herr Heinrich Sirny, habe dem Liebespaar Beistand geleistet und ihm geholfen, das zehnjährige Kind sicherheitshalber zu verstecken. »Frau Sirny«, fragte mich der Beamte vom Sicherheitsbüro, »was sagen Sie zu der Geschichte ?« Es gibt so etwas wie die Gnade des Unfassbaren. Ich sagte zuerst gar nichts. Wozu auch? Was gab es zu kommentieren an einer Geschichte, die eine Frau, die monatelang nach ihrem verschwundenen Kind sucht, beschuldigt, sie selber irgendwo eingesperrt zu haben? Was gab es zu Protokoll zu geben über ein Szenario, in dem auf einmal Menschen, die bloß auf der Straße ihr Auto reparieren, zu Komplizen einer angeblichen Verbrecherin werden, die gerade noch eines der Opfer war? Was gab es auszusagen über eine Verschwörung mit einem Ex-Schwager, den man im Leben einmal gesehen hatte, 1968, bei der eigenen Hochzeit? Was sagt man dazu? Nein, so war’s nicht. Bitte, ich hab kein Verhältnis. Also, ich hab meine Tochter weder sexuell missbraucht, noch halte ich sie versteckt. »Es stimmt nicht«, sagte ich schließlich. Wie armselig doch die Wahrheit klang gegen derart bombastische Lügen. Ich kam mir vor, als hätte man mich ausgezogen und an den Pranger gestellt. Ein Gipskorsett als einzigen Schutz gegen die Demütigung. Ein Gipskorsett, in dem ich mich seit ein paar Monaten von einem Unfall erholte, bei dem ich fast draufgegangen wäre. Der passieren musste, weil ich hinter den unsichtbaren Entführern meiner Tochter herjagte. So besessen, dass man mir fast das Kreuz brechen musste, um mich aufzuhalten. Dann kehrt endlich Ruhe ein. Nur, um Kraft zu sammeln gegen einen, der mich ohne einen einzigen Beweis zur perversen Nymphomanin und eiskalten Kinderschänderin machte. Wie schnell man doch hingerichtet wird. Rufmord geht so leicht. Jemand ist beleidigt, weil man einen Sonntagvormittag lang zu verheult ist, um einen Schulweg abzugehen, spinnt sich was zusammen und hat nichts Besseres zu tun, als das auch noch niederzuschreiben. An das Bundesministerium für Inneres, erster Bezirk, Herrengasse. Sehr geehrte Herren. Ich darf Sie davon in Kenntnis setzen, dass Frau Sirny an allem schuld ist. Und schon war die Kriminalpolizei gezwungen zu ermitteln. Sie riefen bei meinem Ex-Schwager an und versetzten dessen Sohn in einen Schockzustand. Er war allein zu Haus, sein Vater gerade auf Urlaub. Die Polizisten durchsuchten die Wohnung und das Wochenendhaus. Gefunden haben sie nichts. In der Zeitung las ich, dass Heinrich den feinen Herrn Wabl wegen Verleumdung geklagt hatte. Tagelang überlegte ich, ob ich meinen Ex-Schwager anrufen sollte. Ich meine, wie kommt der dazu? Wie komme ich dazu? Ich griff zum Telefon. Es tut mir so leid, sagte ich ungefähr fünfzig Mal. Sie können nichts dafür, sagte Heinrich, er verstand nur nicht, wie er in diese Sache hineingeraten war. Da musste ein Gehirn schon einen schweren Schaden haben. So was kostete ja
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