Verzweifelte Jahre
in ein Kaleidoskop. Wie früher in der Wochenschau. Ein neuer Film begann mit einem zarten Schrei. Es war das erste Mal, dass ich Nataschas Stimme hörte. Gleich darauf legten sie sie mir in den Arm. Ein Bündel, das kaum was wog. Nur das Gesicht schaute aus der weißen, flauschigen Decke. Ein perfektes Kunstwerk, leicht zerknautscht, rot vom Schreien und von der Anstrengung, auf die Welt zu kommen. Kaum spürte sie meine Wärme, wurde sie still. Sie schlief, wie ein Engel. Ich betrachtete die fein gezeichneten Züge, die Bewegung, die in ihrem Gesicht herrschte. Fast nicht wahrnehmbar und doch so ausdrucksvoll, so unendlich spannend. Stundenlang konnte ich zuschauen, wie ihr Mund zuckte, ihre Augenbraue sich hob, ihre Nasenflügel bebten. Ihre winzigen Finger, die nach mir griffen, die erstaunliche Kraft, mit der sie zupackten. Ich erinnerte mich, wie ich zum ersten Mal ihren Namen aussprach. Natascha, wollte ich sagen, weil ich den Klang hören wollte. Es war mir, als spuckte ich Watte.
Ich brachte die Lippen nicht auf, die Zunge klebte am Gaumen und wurde immer dicker. Der Sanitäter neben mir war eingenickt. Nach ein paar Minuten brachte ich wenigstens einen Ton heraus, der ihn aufweckte. Ich hatte das Gefühl, es schnalzte bei jeder Silbe, als ich endlich herausbrachte, dass ich Durst hatte.
»Wir haben keinen Strohhalm«, sagte er, und damit hatte sich die Sache fürs Erste. »Tankstelle, hm?« »Ah«, sagte er, »das ist eine Idee .« Anstalten machte er keine. Aus den Augenwinkeln sah ich seine Uhr. Wir waren eine Stunde unterwegs. Während ich mir überlegte, wann die nächste Raststätte auftauchen würde, oder wie der Kollege am Steuer jetzt erfahren sollte, dass er dort auch halten sollte, döste ich wieder ein. Das Kino in meinem Kopf hatte noch offen, aber die Filme waren nicht mehr sehenswert. Wirre Momentaufnahmen, die ich nicht zu einer Geschichte reihen konnte. Hin und wieder machte ich die Augen auf, spürte diese immer größer werdende Zunge in meinem Mund und träumte von Kübeln voll mit Wasser. Endlich wurde der Wagen langsamer, legte sich leicht nach links, als er rechts abbog, und blieb stehen. Wahrscheinlich musste der Fahrer einmal austreten. Ich bekam meinen Strohhalm und trank die Flasche auf einen Zug aus. »Wie lange werden wir noch brauchen ?« , fragte ich. »Halbe Stunde«, sagte der Pfleger, »wir sind zwanzig Minuten vor Wien .« Das waren zweihundertachtzig Kilometer Durst.
*
Nicht, dass das Lorenz-Böhler-Krankenhaus so viel sympathischer gewesen wäre als das Spital in Kufstein. Krankenhäuser sind Krankenhäuser, und mir wird schon anders, wenn ich dort nur einen Besuch machen muss. Aber es steht in Wien, WienBrigittenau, einem Nachbarbezirk von mir daheim. Luftlinie waren es nicht mehr als ein paar Kilometer zu meiner Wohnung, wenigstens was.
Eine Operation war nicht notwendig. Ich bekam ein Gipskorsett. Ich hatte wieder ein Rückgrat. Und das Gefühl, bald auf den Beinen zu sein. Ich trieb die Schwestern an, die ersten Schritte mit mir zu machen.
Tina bremste mich ein bisschen. Du sollst Ruhe geben, erinnerte sie mich. Mehr brauchte sie nicht zu sagen. So viel hatte ich schon in Kufstein verstanden. Ich wollte bloß aus dem Spital raus. Der stupide Rhythmus, halb acht Frühstück, halb zwölf Mittagessen, halb sieben Nachtmahl, dazwischen Visiten, Untersuchungen, Verwandtenbesuche, machte mich nervös. Ganz abgesehen davon, dass man hier nicht rauchen durfte und der Kaffee eine Katastrophe war.
Nach zwölf Tagen war der Spuk vorbei. Ein Rettungswagen führte mich nach Hause. Ich bewegte mich mit der Grazie eines Roboters und der Schnelligkeit einer Dampfwalze, aber ich war wieder mein eigener Herr. Ich drückte mir einen doppelten Espresso aus der Maschine und bezog mein Lager auf der Couch.
Sehr viel abwechslungsreicher war das Leben daheim nicht. Ich befand mich im Krankenstand, mir fehlte die Arbeit. Sie hatte mich ein paar Stunden am Tag abgelenkt. Sabina schwieg höflich, wenn ich so etwas sagte. Sie dachte an meine manische Phase mit den Hellsichtigen, die Kinderstimmen, die ich gehört hatte, die Wohnungstüren, an denen ich klopfen wollte. Abgelenkt konnte man das nicht nennen.
Claudia war froh, dass wir Kufstein überlebt hatten. Markus’ Narbe wurde langsam blasser, er erzählte mit zunehmend weniger Begeisterung von seinem Unfall. Der Alltag hatte uns wieder in seinen Fängen. Ich verbrachte die Tage mit Gedanken an Natascha und die Nächte mit meiner
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