Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verzweifelte Jahre

Verzweifelte Jahre

Titel: Verzweifelte Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitta Sirny-Kampusch
Vom Netzwerk:
so unglaublich. Eine Geschichte aus dem Märchenbuch, das man jederzeit zuschlagen kann, weil die Kinder eingeschlafen sind, und man in die wirkliche Welt zurückgeht. Wird es morgen noch wahr sein ?, fragen die Enkel mit den Augen. Irgendwann sitze ich mit Sabina allein am Tisch. »Stell dir vor«, sagt sie. »Es ist die erste Nacht seit Jahren, wo wir wissen, dass sie gut schlafen wird .« »Ich würde sie gern atmen hören, neben mir .« Sabina nimmt meine Hand. »Du wirst sie atmen hören und sprechen .« Sie zögert. »Und lachen .« »Sie hat gelacht«, sage ich. Ich habe es noch im Ohr. Es klang nicht künstlich, aber es kam auch nicht von innen. »Eine alte Schrummelige«, sagt Sabina. »Typisch.« Mein Handy blinkt. Eine Nummer, die ich nicht kenne. Eine Sekunde denke ich nach, ob ich abheben soll. Solche Anrufe bedeuteten Gefahr, bis gestern. Was soll jetzt sein? Die Gewohnheit wird mir noch länger solche Schnippchen schlagen. Ich melde mich. Eine männliche Stimme erkundigt sich, ob es eh noch nicht zu spät sei. Ich komme nicht gleich mit. Zu spät wofür? Er hat bloß die Zeit gemeint, sie ist nicht sonderlich schicklich für ein Telefonat mit jemandem, den man nicht kennt. PR-Berater sei er, sagt er, und fragen wolle er, ob ich was brauchte. Unterstützung im Umgang mit den Medien, Hilfe, wenn die Presse zudringlich wird. Danke, sage ich, ich weiß, wie zudringlich die Presse sein kann. Es ist nicht das einzige Gespräch mit einem Fremden diese Nacht. Der Chef des Bekleidungshauses Tlapa will wissen, ob Natascha neue Sachen haben will, er würde sie einkleiden. Aufdringlich will er nicht sein. Keiner will das, obwohl sie alle anrufen. Anwälte, Versicherungsleute, Journalisten. Manche können kaum Deutsch, sitzen im Ausland und haben gehört. Italien, Frankreich, England. Natascha ist europaweit bekannt. Wo ist sie, fragen sie alle. Wo ist sie ?, frage ich mich, als ich im Bett liege. Ich weiß auch jetzt keine Antwort, aber die Frage quält sich nicht mehr bis ins Mark durch. Ich kenne die Adresse nicht, ich weiß nur, dass es dort sicher ist. Ich schlafe trotzdem nicht ein. Der Fernseher läuft die ganze Nacht. Auf jedem Sender werden immer wieder die Programme unterbrochen. ARD. ZDF. RTL. CNN. Man bringt nichts Neues. Zwischen den Meldungen laufen Informationsbänder am unteren Rand des Bildschirms durch. Man sieht einen Zug, Schienen. »... ist der Mann von dem Waggon erfasst und geköpft worden. Wolfgang Priklopil ist tot .« Ich starre auf den Schirm. Ich habe die Nachricht gehört, ich fühle nichts. Gut so, denke ich. Du hast der Natascha einen Gefallen getan.

*

    Der Morgen graut. Ich liege im Bett und denke darüber nach, wie sich das anfühlt. Ich beobachte das Licht, das über das Fenstersims kriecht und Millimeter um Millimeter meine Welt erobert. Es wandert über den Fußboden, es kommt aufs Bett, es tänzelt über die Tuchent, es trifft sich mit meinem Lächeln. Ich werde sie heute wieder sehen, denke ich.
    Ich sehe sie nicht. Claudia ist im Sicherheitsbüro. Um zehn war sie dort, mit einer Tasche mit Gewand und Toilettesachen. Man hat sie vor die Tür gesetzt. Natascha wird verhört, haben sie ihr gesagt, warten Sie.
    Sie wartet. Mein Schwiegersohn ist in meiner Wohnung in Wien. Er malt Nataschas Zimmer aus. Mintgrün. Zwei Arbeiter hat er sich geholt, sie verlegen den Boden neu. Komm nicht her, sagt Gerhard, der ganze Bau ist voller Journalisten. Die Vorstellung jagt mir Angst ein, war nicht freundlich zu mir gewesen, die Presse. Wie Gerhard gekommen ist in aller Herrgottsfrüh, hat ihn einer aufgehalten. Wer sind Sie ?, hat der gefragt. Wer lasst fragen, hat er gesagt. Getuschelt haben sie hinter seinem Rücken. Das ist der neue Lebensgefährte von der Sirny. Warte in Wienerbruck, sagt Gerhard. Ich warte. Ich rufe bei der Polizei an. Nein, sagen sie, sehen können Sie sie nicht. Warum, frage ich, jetzt, wo der Irre tot ist, muss man sie doch nicht mehr beschützen. Man muss sie beschützen vor allem, sagen sie, vor den Medien und vor jedem Menschen, der mit ihr Kontakt aufnehmen möchte. Aber ich bin ihre Mutter, sage ich. Es zählt nicht. Jedes falsche Wort könne Folgen haben. Ihr Zustand, sagen sie, man muss Rücksicht nehmen auf ihren Zustand. Warten Sie. Ich warte. Der Koch hat Natascha ein Handy gebracht, gestern. Die Polizei hat es ihr abgenommen. Es könnte abgehört werden. Ich rufe an. Gebt ihr das Handy wieder, sage ich. Nein, sagen sie. Die Medien, die Sicherheit, man

Weitere Kostenlose Bücher