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Verzweifelte Jahre

Verzweifelte Jahre

Titel: Verzweifelte Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitta Sirny-Kampusch
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ungeheuren Mirakel, beeindruckt von meiner Tochter. Sie glauben, sie hoffen, sie mutmaßen. Von Nataschas Familie ist nirgends die Rede. Sie hat Betreuer und Berater. Geschwister, Eltern und ein Zuhause hat sie nicht. Meine Tochter gehört mir nicht mehr.

15

    Wie geht es dir ?, fragt mich eine Freundin am Telefon. Es ist Montag, der fünfte Tag ohne Natascha seit ihrer Rückkehr. Ich will antworten. Ich zögere. Wie geht es mir? Ich bin glücklich, dass Natascha lebt, ich bin traurig, dass wir nicht zusammen sind. Ich bin glücklich, dass es ihr gut geht, ich bin entrüstet, weil sie allein unter Fremden ist. Ich bin glücklich, dass sie frei ist, ich bin entsetzt, dass man sie wieder gefangen hält. Ich bin ein Gefäß, in das man so ziemlich jedes Gefühl gepresst hat, das ein Mensch haben kann. Gleichzeitig bin ich leer. Ich bin Plus und Minus. Ich fühle mich als Null. Die Gegensätze kämpfen in mir. Sie messen ihre Kräfte, sie schleudern mich nach oben, sie ziehen mich runter. Als Mutter von Natascha bin ich alles, alles, als Mutter von Natascha Kampusch bin ich nichts. Ohnmacht und Zorn. Paralyse und Wut. Ich kann sie nicht mehr hören, die Argumente, mit denen man mich abwimmelt. Ich kann es nicht mehr aushalten, das Gewäsch über die Profis, die ich nicht bei ihrer Arbeit stören darf. Ich kann ihn nicht mehr ertragen, den Sermon über die Koryphäen, die meiner Tochter Gutes tun. Tu Gutes und rede darüber. Das ist die ganze Wahrheit. Da ist jemand, der einen Stock unter der Erde leben musste, auf die Bühne getreten, und die ganze Welt schaut zu. Was für eine Gelegenheit. Versteckt die Hauptdarstellerin, sie ist so viel Licht nicht gewachsen. Scheucht sie in die schummrige Garderobe, dort ist sie sicher. Dreht die Scheinwerfer auf uns, die bescheidenen Nebendarsteller, die ihr beiseite stehen. Wir schreiben jetzt das Skript, wir führen Regie, wir inszenieren ein Stück Theater aus dem Leben. Eine Mutter? Nein, kommt nicht vor in diesem Akt. Tut uns leid. Ich sage meiner Freundin nicht, wie es mir geht. Ich sage es auch dem Herrn Professor nicht. Er ist für mich nicht erreichbar, wenn ich ihn anrufe und mich nach Natascha erkundigen will. Es geht ihr gut, es geht ihr gut, es geht ihr gut, höre ich auch die nächsten beiden Tage in allen Gesprächen. Dann sagt eine Stimme leise: »Mama .« Natascha ist am Telefon. Eine Woche nach unserem Wiedersehen haben sie ihr erstmals erlaubt, mit mir zu sprechen. »Ich möchte so gern bei dir sein«, sagt sie. »Leg dir ein Gipsbein zu, dann kannst du dich mit der Rettung herführen lassen .« Ich stelle keine Fragen. Wir unterhalten uns ein paar Minuten. Zwischen ihren Worten höre ich genug heraus. Sie klingt mutig. Ich rufe die Frau Anwältin an. »Pinterits.« »Natascha will mich sehen .« »Woher wollen Sie das wissen ?« »Sie hat mich gerade angerufen. Ich will zu ihr. Jetzt.«
    Man lotst mich in die Lazarettgasse in Wien-Alsergrund. Gleich daneben das Allgemeine Krankenhaus, ein Riesen-Gebäudekomplex, auch für Nicht-Wiener als Spital zu identifizieren. Trotzdem spielen wir Verstecken. Ein Arzt wartet auf mich am Eingang. Er schleust mich durch unterirdische Gänge, die kein Besucher jemals sieht. Ich soll nicht mitkriegen, auf welche Station er mich bringt. Wir irren wie durch ein antiseptisches Labyrinth, rauf, runter, an den Misträumen vorbei. Die Ebenen sind mit Buchstaben gekennzeichnet, man kann sich an einem Farbleitsystem orientieren. Die Geheimniskrämerei war eine Farce. Wir kommen bei der psychiatrischen Kinderabteilung heraus. Das Einzige, was ich nicht noch einmal gefunden hätte, ist der Weg durch die Eingeweide des Krankenhauses.
    Ein Mann von der Security sitzt vor Nataschas Zimmertür. Er lässt mich durch. Ich bin bei meiner Tochter. Es ist ein ruhiges Glück, das uns verbindet. Es legt die Arme um uns und gibt der Zeit das Zeichen, sich nicht allzu sehr zu bewegen, damit wir uns den Moment ins Gedächtnis malen können. Das Bild wird ewig dort hängen. Ich habe meine Tochter wieder.

*

    Die Tage laufen immer gleich ab. Der Höhepunkt ist der Besuch bei Natascha, der Rest nicht so wichtig. Wir haben keine fixen Besuchszeiten. Jeden Morgen muss ich anrufen und fragen, wann ich zu ihr darf. Ich bin immer noch eine Bittstellerin im fremdbestimmten Leben meiner Tochter. Soll sein.
    Natascha ist von Tag zu Tag weniger blass und sieht auch sonst nicht so aus, als müsste man sie in einem Spital einsperren. Sie trägt keines dieser

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