Verzweifelte Jahre
deine Mutter interessiert sich nicht für dich. Hauen wir doch mit dem Holzhammer auf ihr Trauma drauf. Sie versteht schon die Welt nicht mehr, in die sie zurückgekehrt ist. Sie wird überhaupt nichts mehr verstehen, wenn man ihr die engsten Bande abschneidet. Sie war zehn, als wir uns verloren. Das ist die Zeit, an die sie anknüpft, und man zerschlägt diesen Knoten. Können Sie mir helfen ?, frage ich die Journalistin. Ja, sagt sie und schreibt meine Ohnmacht nieder. Dass man mich nicht zu meinem Kind lässt. Dass ich gegen Mauern renne. Ich sitze in einem Urlaubsort, an dem ich nicht sein will. Eineinhalb Stunden von meiner Tochter entfernt, weil man mich nicht in ihrer Nähe haben will. Ich kann nicht in meine Wohnung, weil man mich dort nur aushorchen will. Ich hänge am Telefon und höre nur, was man mir nicht sagen will. Niemanden interessiert, was ich will. Claudia belagert weiterhin das Sicherheitsbüro. Sie erfährt nichts. Man nimmt die Sachen, die sie Natascha mitbringt, und nickt. Natascha ist traumatisiert, erklärt man mir. Sie wird untersucht, sagt man mir. Dr. Max Friedrich, Kinderpsychiater, eine Kapazität, versichert man mir. Es seien nur die besten Leute, die sich um sie kümmern. Das kann schon sein, denke ich, aber es sind Fremde für sie. In achtzehn Jahren hat Natascha zwei Lebensmittelpunkte gehabt. Die Familie. Den Verbrecher. Sie hat sich in zwei abgeschlossenen Systemen bewegt. Hineingeboren in das eine, hineingerissen in das andere. Jetzt stößt man sie in ein drittes. Macht sie zum Studienobjekt. Wie einen Patienten mit einer unbekannten Krankheit, den man vorführt. Schaut, so was habt ihr noch nie gesehen. Hört zu, wir wissen, wie man so etwas behandelt. Denkt nicht einmal dran, dass wir uns so eine Chance entgehen lassen. Am Jahrmarkt macht man’s nicht anders. Dieser Jahrmarkt der Eitelkeiten ist die Wissenschaft. Seriös. Akademisch. Unangreifbar. Laien haben nichts verloren in diesem Kreis der Ehrbaren. Sie haben das Kommando. Sie sind die Autoritäten. Sie sind die Obrigkeit. Sie schüchtern ein durch bloße Anwesenheit. Wenn sie einem was erklären, dann in einer Sprache, die man auf keinen Fall verstehen soll. Sie sind nicht interessiert an einem Miteinander. Sie sind interessiert an sich selbst. Und an dem Geschöpf, das ihnen Glanz verleiht. Ich zweifle nicht daran, dass sie Natascha helfen wollen. Ich verzweifle an der Art, wie es passiert. Medizinische Fragebögen statt einer Umarmung? Klinische Kälte statt Wärme von daheim? Da ist mir noch tausend Mal lieber, wenn sie wenigstens den Koch zu ihr lassen. Es gibt nicht viele Gesichter, die sie kennt. Nehmt irgendeines. Nehmt meines. »Was bilden Sie sich eigentlich ein, Frau Sirny ?« Am Telefon war der Professor nicht so freundlich wie vor der Kamera. Man könnte auch guten Tag sagen, Friedrich hier. Ich kam gar nicht dazu, zu fragen, warum ihn auf einmal mein Geisteszustand interessiert. »Wissen Sie, was Sie mit dieser Geschichte angerichtet haben ?« Diese Geschichte liegt auch vor mir am Tisch. Es ist mein Hilfeschrei, den die Journalistin in ihrer Tageszeitung gebracht hat. »Haben Sie ein Ahnung, wie uns das schaden kann ?« Wen genau meint er mit uns ?, frage ich mich. »Unterlassen Sie solche Alleingänge .« Ende des Gespräches. Ähnliche Befehle höre ich den ganzen restlichen Tag. Es ist Samstag. Der dritte Tag, an dem ich mein Kind nicht sehe. Natascha ist im Spital, sagt man mir. Und dann alles, was ich ständig höre, seit man mich auf Distanz hält. Sie wird untersucht. Das muss man abwarten, um herauszufinden, was man ihr zumuten kann. Es geht ihr den Umständen entsprechend. Die physischen Tests haben noch nichts ergeben. Die psychischen werden noch dauern. Ich kann mir das gut vorstellen, ich sehe den Herrn Professor alle paar Stunden im Fernsehen. Auch die Ermittler reden mehr in die Mikrofone der Reporter als mit mir. Sie war aufgeregt wie ein Backfisch, käut einer unser erstes Treffen wieder. Wir gehen zart mit ihr um, sagt ein anderer. Man braucht jetzt viel Geduld, mahnt ein dritter. Der Fall Natascha könnte glücklich zu Ende gegangen sein, ein vierter. Ich drehe den Ton weg. Die menschliche Mauer um Natascha wird täglich dicker. Immer mehr Leute quetschen sich zwischen mich und mein Kind. Seelen-Experten, Körper-Durchleuchter, Jugend-Schützer, Sozial-Wächter, Sicherheits-Hüter, Öffentlichkeits-Arbeiter, SchönSprecher. Sie sind betroffen vom spektakulären Ereignis, berührt vom
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