Verzweifelte Jahre
Mann im Führerstand. Er freut sich auf den Feierabend. Vielleicht ist noch ein guter Film im Fernsehen.
Routinemäßig kontrolliert er sein Paneel. Alles, wie es sein soll. Das gleichförmige Rattern, das ihn tagtäglich begleitet, hört er schon gar nicht mehr. Er schaut vor sich aus dem Fenster. Die Garnitur rollt ruhig vor sich hin.
Die Häuser ziehen an ihm vorbei. Er sieht den Millennium Tower, das Riesenrad. Fährt kaum ein Wiener damit, denkt er zwischen den Stationen Praterstern und Traisengasse. Überhaupt, Wurschtelprater. Hochschaubahn, Lachkabinett, Watschenmann, jetzt sitzen sie alle im Schweizerhaus bei einem Bier und einer anständigen Stelze mit Senf und Kren. Einen Hunger kriege ich langsam, denkt er.
Ein Schatten löst sich aus der Dämmerung. Aus den Augenwinkeln sieht der Lokführer eine schemenhafte Bewegung. Er kann nicht erkennen, dass da ein Mann auf die Gleise springt. Es geht alles viel zu schnell. Er hat keine Chance, den Aufprall zu verhindern.
Die Fahrgäste spüren nur einen leichten Ruck.
*
»So, Frau Sirny.« Die fünf Minuten sind vorbei. »Ja, ja«, sage ich und gehe hinüber ins Nebenzimmer zu Natascha. Sie spricht mit der jungen Polizistin, die zu ihrem Schutz abgestellt ist. Sie hat von ihr eine Jacke und eine Uhr bekommen, die beiden scheinen sich zu verstehen. Natascha hat aufgehört zu zittern. »Aber jetzt«, sagt der Beamte, »das Auto wartet, bitte Frau Sirny«. Ich verabschiede mich von Natascha. »Bis morgen.« »Ja. Bis morgen.« »Bis morgen.« »Sie ist in guten Händen«, sagt der Beamte und zieht mich aus dem Zimmer. Ich drehe mich noch dreimal um. Ein Bukett von Menschen hat sich um Natascha geschlossen. Claudia geht ein Stück mit mir. »Mach dir keine Sorgen, die wissen schon, was sie tun .« Ich bringe kein Wort heraus. »Morgen kommt die Natascha zum Verhör«, sagt Claudia. »Ich bringe ihr ordentliches Gewand, sie hat ja nicht einmal Unterwäsche an. Du fahr zur Sabina und den Kindern, ich bin sicher morgen früher da als du, ich mach das schon .« Wie im Taumel steige ich in den Wagen. Wie auf Wolken schwebe ich dahin. Wie im Traum lasse ich die vergangenen Stunden noch einmal ablaufen. Natascha lebt. Mein Kind ist wieder da. Ich lache, ich weine, ich lebe.
14
Die Schatten haben keine Arme mehr. Ich schaue durchs Autofenster in die Nacht hinaus. Die Dunkelheit ist heller. Hat nichts von dem schwarzen Loch, das mich jahrelang in sich hineingesogen hat. Meine Familie ist wieder komplett. Die Kreaturen der Finsternis können mir nichts mehr anhaben. Die Veränderung findet im Kopf statt, denke ich. Ein Anruf und alles ist wieder gut. Als wäre da jemand gesessen in einer dieser alten Telefonzentralen, wo junge Frauen mit auftoupierten Frisuren für jedes Gespräch ihre Stecker umstöpseln müssen. Ich bin wieder ans Leben angeschlossen. Komisch, überlege ich, ich kann es denken, aber ich fühle es noch nicht. Noch nicht richtig. Schmerz und Freude sind auf demselben Fundament gebaut. Einer Mischung aus Trance und Lähmung. Man kann es nicht unterscheiden, anfangs. Wie ganz heißes Wasser auf der Haut, das man sich auch eiskalt vorstellen kann. »... sag ich dir, der kann sich freuen, wenn wir den erwischen .« Die Unterhaltung der Beamten vorne im Auto reißt mich aus meinen Gedanken. Er. Jetzt hat er ein Geschlecht. Ihn erwischen. Jetzt hat er ein Gesicht, das man verfolgen kann. Wolfgang Priklopil. Jetzt hat der Teufel einen Namen. Wir kommen durch ein Dorf, der Fahrer fährt rechts ran. »Wir drehen hier um«, sagt er und zeigt auf eine Funkstreife vor uns. »Die örtlichen Kollegen werden Sie heimbringen .« Mir ist es egal, wer fährt. Ich will zu Sabina und den Enkeln. Ich will reden. Alles erzählen. Jemandem, der versteht, was uns gerade passiert ist, und der sich genauso freut. Sabina empfängt mich im Hof. Sie hat die Nachrichten gehört, aber nicht viel erfahren. Ständig brachte man Meldungen, Sondersendungen wurden eingeschoben, alles drehte sich um die Sensation. Ein vermisstes Kind, das jeder abgeschrieben hat, ist wieder aufgetaucht. Die Geschichte des Jahres. Ein Gesprächsthema für Österreich. Ein Wunder für uns. Wir sitzen um den Tisch in der Küche des kleinen Appartements. Die Kinder sind noch auf. Ich zeige das Foto von Natascha am Handy. So schaut sie jetzt aus! Ich erzähle von unserem Wiedersehen. Das hat sie gesagt? Alles muss ich dreimal wiederholen. Vielleicht kann man es dann endlich begreifen. Nataschas Rückkehr ist
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