Verzweifelte Jahre
Fenster aufmachen? Ich neble Sie ja ganz ein mit dem Rauch... was ich geraucht habe, die ganzen Jahre... nicht so viele Zigaretten, Mami, hat sie immer gesagt... darf ich ihr überhaupt nicht erzählen, dass ich nur von Nikotin und Kaffee gelebt habe... aber so viel anderes muss ich ihr erzählen... sie kennt ja nicht einmal mehr ihre Nichten und Neffen... « Und so geht es weiter bis Wien. An der Stadtgrenze nimmt einer der Beamten vorne das Blaulicht aus dem Handschuhfach und stellt es aufs Dach. Die letzten Kilometer, denke ich. Wir biegen in die Berggasse ein. Vorm Sicherheitsbüro drängen sich die Reporter. Dreißig Meter daneben ist ein Garagentor. Es rollt auf. Wir fahren durch in den Innenhof. Der Wagen hält. Wir steigen aus, ein Beamter öffnet mir die Tür, wir warten auf den Aufzug. Im Lift beginnen mir die Knie zu schlottern. Ein paar Sekunden noch, denke ich. Der Aufzug bleibt stehen, die Beamten gehen vor. Der Gang erscheint mir endlos. Ich sehe den Eingang zum Büro. Der Weg ist kurz, er kommt mir immens lang vor. Die Tür. Die Klinke. Der erste Blick in den Raum. Und da ist sie nicht. Die Beamten führen mich weiter. Ums Eck, in einen anderen Raum. Die Tür ist offen. Ich sehe Natascha.
*
Standbild. Brigitta Sirny und Natascha Kampusch stehen einander gegenüber. Mutter und Tochter. Getrennt seit achteinhalb Jahren. Der Raum ist voller Menschen. Für die beiden ist das egal. In dem Moment gibt es nur sie. Ihre Blicke haben sich getroffen. An ihren Gesichtern ist nicht zu erkennen, was in ihnen vorgeht. Der magische Augenblick gehört ihnen allein. Niemand kann nachvollziehen, was da Unglaubliches mit ihnen passiert. So wird ein Stern geboren. Wie in der Leere des Alls verdichtet sich Masse mit unfassbarem Druck und etwas Neues entsteht. Sie stehen erstmals wieder im Licht.
*
Natascha ist mager, sehr blass, aber ich erkenne sie sofort. Sie hat keine Verletzung, sie ist nicht entstellt. Sie hat ein Trägerkleid an, eine weiße Jacke und Ballerinas. Ich gehe auf sie zu. Wir fallen uns in die Arme. Wir halten uns lange. Ich spüre, wie sie zittert.
Sie löst sich von mir. Mit einer Hand nimmt sie mich an der Weste, zieht sie zur Seite, mustert mich und sagt: »Du bist ja noch immer so schlank und so sexy. Ich habe geglaubt, da kommt eine alte Schrummelige .«
»Na, hallo«, sage ich.
Plötzlich fallen mir die anderen Menschen auf. Zehn, fünfzehn, zwanzig Leute müssen das sein, allein in diesem Zimmer. Alle beobachten uns. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Ich bin nicht sexuell missbraucht worden«, antwortet Natascha auf die Frage, die ich nicht gestellt habe. Es muss Gedankenübertragung sein.
Und Gedankenübertragung ist alles, was sie uns lassen. Wir stehen nur einen Meter voneinander entfernt, und schon trennt man uns. Niemand verlässt den Raum, um uns wenigstens ein paar private Minuten zu schenken. Alle sind wichtig. Jeder tut, als hätte er sie gefunden. Im schönsten Augenblick unseres Lebens sind wir nur Teil einer Amtshandlung.
Jemand schiebt seine Schulter zwischen uns, verwickelt Natascha in ein Gespräch, wimmelt mich ab, auf meinen Platz in der dritten Reihe. Ich entdecke Claudia und Günter. Sie waren vor mir da, genau wie der Koch, der etwas abseits steht. Ihr Weg ins Sicherheitsbüro war wesentlich kürzer als meiner aus Wienerbruck.
Neben dem Koch steht eine Frau in einem grünen Kleid. Ich schaue sie an und weiß, dass sie nicht da hergehört. »Das ist die Georgia«, sagt Claudia, »das ist seine Frau jetzt .« Ihr Blick bleibt am Koch hängen. »Bevor du gekommen bist, haben sich Szenen abgespielt, das kannst du dir nicht vorstellen .« »Was ?« , frage ich. »Na, pass auf. Nataschas Vater kommt rein, sieht sie und sagt zu mir: Ist sie das? Rennt zu ihr hin, reißt ihr die Hand in die Höhe und sucht die Narbe von der Operation damals. Der hat sie nicht erkannt. Der eigene Vater. Erst wie er die Narbe gesehen hat. Will sie umarmen, plötzlich fragt ihn die Natascha. Wieso hast du das Lösegeld nicht gezahlt? Der schaut sie an mit seinem verschwollenen Gesicht und sagt: Von mir hat keiner Lösegeld verlangt .« Der Koch kommt auf uns zu. Ich gebe ihm nicht die Hand. Ein älterer Beamter nimmt mich beiseite. Er deutet zum Fenster, ich folge ihm. »Ich muss Ihnen was sagen, Frau Sirny .« Er spricht leise, Natascha soll uns nicht hören. »Der Täter ist noch auf freiem Fuß«, erklärt er. »Wir wissen, wer es ist, wir wissen aber nicht, wo er ist. Wir müssen
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