Verzweifelte Jahre
muss warten. Ich warte. Ich rufe an. Man verbindet mich mit einer gewissen Frau Pinterits. Sie sei vom Weißen Ring, sagt man, Natascha habe sich eine Betreuung von dieser Organisation gewünscht. Sie sei jetzt für Natascha zuständig, und eine Kinder- und Jugendanwältin. Ich möchte mit meiner Tochter sprechen, sage ich zu ihr. Sie will nicht mit Ihnen reden, sagt sie. Das will ich selber hören von meinem Kind, sage ich. Sie antwortet nicht. Wo ist sie jetzt ?, frage ich. Keine Antwort. Was macht sie jetzt ?, frage ich. Das wisse sie nicht, sie würde sich schon um sie kümmern. Wie denn? Wenn sie nicht einmal weiß, wo sie ist. Da passt doch kein Satz zum anderen. Ich solle Geduld haben, sagt sie. Ich hatte jahrelang Geduld, jetzt brauche ich keine mehr, sage ich. Es tut ihr leid, sagt sie. Sie müssen trotzdem warten. Ich warte. Ich rufe den Koch an. Mich lassen sie auch nicht zu ihr, sagt er. Sie ist in Gewahrsam, wir sollen warten, sagen sie. Ich warte. Ich rufe an. Ich warte. Ich warte. Habe ich einen Fehler gemacht gestern ?, grüble ich. Was, wenn ich einfach gesagt hätte, Natascha, wir gehen. Sie hätten nichts machen können. Ich habe dem Schutzgewahrsam zugestimmt, weil da draußen der Verbrecher auf der Flucht war. Jetzt ist er tot. Sie sagen mir nicht, wann der Schutzgewahrsam aufgehoben wird. Dazu brauchen sie mein Einverständnis nicht mehr. Sie brauchen mich überhaupt nicht mehr. Das Einzige, was mir erlaubt ist, ist Warten. Ich warte. Jemand ruft an. Eine Freundin war gestern zufällig im Wiener Donauzentrum, wo der Verbrecher in der Garage des Einkaufscenters sein Auto abgestellt hat. Die Polizei hat alles abgeriegelt, ein Riesentumult sei das gewesen, sagt sie. Einen Freund habe er angerufen, der Irre, das wisse man jetzt. Er sei betrunken, habe er ihm erklärt, man habe ihm den Führerschein abgenommen, ob er ihn nicht abholen könne? Dann hat er sich von dem zur Bahn führen lassen, dort wolle er aussteigen. Den Rest weißt du eh, sagte meine Freundin. Was jetzt mit der Natascha ist, will sie wissen. Man lässt mich nicht zu ihr, sage ich. Ich muss warten. Ich warte. Du kannst nichts machen, sagt Sabina. Du kannst einen Polizisten würgen, und sie lassen dich trotzdem nicht zu ihr. Wahrscheinlich verhaften sie dich noch. Es wird Abend. Ich habe das Telefon kaum aus der Hand gelegt. Zwölf Stunden lang habe ich versucht, an meine Tochter heranzukommen. Vor vierundzwanzig Stunden habe ich sie zuletzt gesehen. Man lässt mich nicht zu ihr. Man sagt mir nicht, wo sie ist. Man hat sie mir zum zweiten Mal entrissen. Mein Leben in der Hölle hat wieder von vorne begonnen.
*
Es ist Freitag. Ich habe nicht geschlafen. Der zweite Morgen nach Nataschas Rückkehr bricht an, er ist nicht mehr so hell wie gestern. Ich begreife nicht, was vorgeht.
Natascha ist wieder da. Sie lebt, sie ist gesund, sie ist frei. Unser altes Leben kann wieder beginnen. Langsam und anders als früher. Das Wie sollte man jetzt uns überlassen.
Der Kreis hat sich geschlossen. Aber irgendwas stimmt nicht. Wenn ein Kreis sich schließt, ist etwas vorbei. Dieses Kapitel im Buch unseres Lebens sollte geschrieben sein, mit einem Ende, in Großbuchstaben gedruckt. Aber irgendwas läuft gewaltig schief. Die Dinge bewegen sich weiter auf ihrer Kreisbahn. Sie wiederholen sich. Natascha ist wieder weg. Ich weiß wieder nicht, wo sie ist. Ich suche sie. Mir sind wieder die Hände gebunden. Mein verlängerter Arm ist wieder nur die Presse. Ich bin die Einzige, die außerhalb des Kreises bleiben muss. Ein Satellit. Ausrangiert, abgedrängt, vergessen. Verdammt dazu, auf einer Umlaufbahn zu rotieren.
Ich beschließe auszubrechen. Eine Journalistin unterstützt mich dabei. Helfen Sie mir, ich darf nicht zu meinem Kind, sage ich am Telefon. Sie versteht mich. Oder wittert auch nur ihre Story. Für mich macht das keinen Unterschied. Ich will meine Verzweiflung gedruckt sehen. Natascha muss sehen, dass ich alles tue, um bei ihr zu sein. Sie lassen sie an kein Telefon, sie leiten keine Nachrichten weiter. Uns bleibt nur der Dialog in der Öffentlichkeit. Das ist meine einzige Möglichkeit, sie zu erreichen. Sie muss das lesen. Was sagt man ihr denn, warum ihre Mutter nicht bei ihr ist? Das ist jetzt nicht wichtig? Sie kümmert sich nicht um dich? Gar nichts? Überlegt sich wer, wie sich das für sie anhören muss? Und welche Wirkung das auf sie hat? Es ist nicht lange her, daß ihr der Verbrecher gesagt hat, dein Vater zahlt kein Lösegeld,
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